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Zugehört – jeder Mensch sollte eine Hedwig in seinem Leben haben

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Meiner Freundin Hedwig höre ich einmal in der Woche am Telefon zu und sie mir. Neben dem Austausch von Neuigkeiten in unseren Familien, geht es vor allem um unsere Genesungsfortschritte. Wir sind Reisegefährtinnen und begleiten die Heilungsreise der anderen mit Zuhören, Nachfragen, Anteil nehmen und Dankbarkeitslisten teilen. Wir können zusammen lachen und auch mal traurig sein. Wir sind füreinander da, und sie steht auf meiner kurzen Liste von Menschen, die ich mitten in der Nacht anrufen würde, wenn ich Angst habe oder es mir schlecht geht. Ihr kann ich selbst meine peinlichen Gefühle zeigen, und sie ist gut darin, meine verknoteten Gedanken ordentlich aufzudröseln. Wir kennen uns aus der Selbsthilfegruppe und sind beide dankbar und glücklich über unser Leben ohne Alkohol. Beide beschäftigen wir uns mit Spiritualität. Wir versuchen, unsere täglichen Routinen lebendig zu erhalten. Wir denken nach und wir versuchen die 12 Schritte des Programms in unserem täglichen Leben anzuwenden. Da

Drittes Weihnachten - nüchtern betrachtet

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  Alkohol ist mein geringstes Problem: Weihnachten stresst mich. Nicht weil ich Vorweihnachtsstress mit Geschenkefinden hätte oder einen Marathon an Weihnachtsfeiern bewältigen müsste. Auch nicht weil das Kind als Engel oder Schaf im Krippenspiel mitwirkt. Auch nicht, weil Kinderübergaben in der Patchworkfamilie durchzustehen sind. Die haben wir hinter uns - Gott sei Dank! Nein, ich habe Weihnachtsstress, weil ich meine Erwartungen nicht loslassen kann: E s soll schön sein und festlich mit Deko und gutem Essen. Alle sollen sich wohlfühlen, die Kinder sollen auch Zeit miteinander verbringen und ohne uns. Jedes Familienmitglied soll die perfekte Balance erleben zwischen Zeit für sich selbst aber auch genug Zeit mit der ganzen Familie und für gemeinsame Aktivitäten. Ähnliches gilt auch für die Besuche der weiteren Verwandschaft: Alles schön, alles gut, alle glücklich. Wenn ich das so schreibe, fühlt es sich an, als hätte ich Rollen in einem Edekaweihnachtsfilm verteilt, und ich muss lache

Tausend Tage nüchtern sein - vom Rettungsschirm zum Lebensstil

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Freiwillig habe ich nicht aufgehört zu trinken. Gezwungen hat mich die Angst, ich könnte alles zerstören und verlieren, was mir lieb und teuer ist: Meine Familie, meine Ehe, meine Arbeit, meinen Lebenssinn, meine Lebensfreude und zum Schluss mich selbst. Den Zeitpunkt, mir und meiner Umgebung einzugestehen, dass ich alkoholabhängig geworden bin, habe ich lange hinausgezögert: Wenn ich den Elefant im Raum beim Namen nenne, muss ich aufhören zu trinken. Jahrelang war ich dazu nicht bereit. Ein Leben ohne Wein war für mich nicht denkbar. Ich wollte weiter trinken: gesellschaftsfähig sein und nicht ausgeschlossen, die Wirkung der ersten Gläser genießen, meinem Verlangen nach Wein nachgeben, mich entspannen, mich belohnen, mich ablenken, betäuben und vergessen. Es ging mir abgrundtief schlecht mit dem Trinken, aber ich hatte keine Vorstellung, wie es ohne Alkohol gehen könnte. Mein Weg in die Nüchternheit begann mit einer Reihe von Bekenntnissen: zuerst gegenüber einer unbekannten Psych

Aus der Werkzeugkiste - Der Liebesbrief

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"Wenn man beim Lesen weinen muss, ist es ein guter Brief", sagt meine Tochter, eine versierte und fleißige Liebesbriefschreiberin und Liebesbriefempfängerin. Sie schreibt ihre von Hand in bestens lesbarer Druckschrift, meistens auf die Rückseite selbst gestalteter Karten. Ich schätze die Möglichkeit des Überarbeitens, deshalb schreibe ich meine am Computer und verschicke sie ausgedruckt. Bei meiner Schrift ist schon das ein Ausdruck von Liebe.  Schon immer habe ich Liebesbriefe geschrieben. Die ersten in der Schreibschrift einer Erstklässlerin waren mit Herzchen verziert und gingen an Opa und Oma. Der romantische Liebesbrief kam später in mein Leben mit allen denkbaren Höhenflügen und Jammertälern. Pubertät und Briefeschreiben war bei mir eine explosive Mischung. Auch der angemessene Umgang mit empfangenen Liebesbriefen war für mich ein Lernprozess mit Kummergarantie auf beiden Seiten. Die Variante ohne Worte, die selbst aufgenommene Kassette mit vielsagender Liedauswahl un

Wie geht Verzeihen? Teil 2: Meinem alten Arbeitgeber

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  Schon in den ersten zehn Tagen in der Suchtklinik begann ich, mir eine neue Stelle zu suchen.  Meine Therapeutin kam zu dem Schluss, ich würde meine frische  Abstinenz wahrscheinlich nicht halten können, wenn ich nach dem Klinikaufenthalt an meinen alten Arbeitsplatz zurückkehrte.  Ich war nicht nur alkoholabhängig, sondern auch völlig überarbeitet, depressiv und seelisch sehr verletzt. In keinster Weise konnte ich mir vorstellen, dorthin auch nur einen Fuß zurück zu setzen. Die Probleme dort waren die größte Baustelle in meinem Leben, und ich hatte keine günstige Bewältigungsstrategie gelernt. Angst,  Ärger, die Isolation, die Ohnmacht, das zerstörte Selbstwertgefühl, ungerecht behandelt worden zu sein und viele andere zermürbende Gefühle betäubte ich mit Alkohol, jeden Tag, wenn ich von der Arbeit nachhause kam. Ich trank auch zur Entspannung und belohnte mich mit Weißwein dafür, den Arbeitstag hinter mir zu haben. Gegen Ende meines Trinkens brauchte ich keine Gründe mehr, ic