Wie geht Verzeihen? Teil 2: Meinem alten Arbeitgeber

 

Schon in den ersten zehn Tagen in der Suchtklinik begann ich, mir eine neue Stelle zu suchen.  Meine Therapeutin kam zu dem Schluss, ich würde meine frische  Abstinenz wahrscheinlich nicht halten können, wenn ich nach dem Klinikaufenthalt an meinen alten Arbeitsplatz zurückkehrte. 

Ich war nicht nur alkoholabhängig, sondern auch völlig überarbeitet, depressiv und seelisch sehr verletzt. In keinster Weise konnte ich mir vorstellen, dorthin auch nur einen Fuß zurück zu setzen. Die Probleme dort waren die größte Baustelle in meinem Leben, und ich hatte keine günstige Bewältigungsstrategie gelernt. Angst,  Ärger, die Isolation, die Ohnmacht, das zerstörte Selbstwertgefühl, ungerecht behandelt worden zu sein und viele andere zermürbende Gefühle betäubte ich mit Alkohol, jeden Tag, wenn ich von der Arbeit nachhause kam. Ich trank auch zur Entspannung und belohnte mich mit Weißwein dafür, den Arbeitstag hinter mir zu haben. Gegen Ende meines Trinkens brauchte ich keine Gründe mehr, ich trank immer sofort, wenn ich zur Tür hereinkam, lediglich gebremst von der Anwesenheit meiner Familie. War jemand da, schlich ich mich zum Trinken in den Keller.

Aus guten Gründen wird davon abgeraten, in der ersten Zeit der Nüchternheit, weitreichende Entscheidungen zu treffen. Körper, Geist und Seele müssen sich erholen, und es dauert, bis sich die Abstinenz stabilisiert und neue Gewohnheiten sich einbürgern. Auch Tatkraft, Ausdauer, Frustrationstoleranz und gesundes Urteilsvermögen sind nicht sofort in vollem Umfang wieder verfügbar, wenn man mit dem Trinken aufhört, so habe ich es erlebt. Der Prozess der Genesung braucht Zeit und Energie. Große Veränderungen sind neue Kraftakte, die zusätzlich belasten können. Es kann Rückfälle produzieren, seine Probleme ungelöst an einen neuen Ort, neuen Job oder in eine neue Beziehung zu tragen.

Für mich war mein Arbeitsplatzwechsel die Bedingung, um nüchtern bleiben zu können. Ich konnte nicht mit diesem Arbeitsumfeld genesen, ich musste von ihm genesen. Der Wechsel war ohne Alternative.

Nach Ende meines Klinikaufenthalts war ich noch drei Monate krankgeschrieben. Ich hatte enormes Glück und viel Unterstützung. Auf diese Weise konnte ich in Ruhe und mit zunehmender Stärke alles klarmachen und danach eine neue Stelle antreten, Teilzeit wie gewünscht und in derselben Branche. Inzwischen habe ich mich an meinem neuen Arbeitsplatz gut eingelebt, kenne die Abläufe, komme gut mit den Kolleginnen und Kollegen zurecht und auch mit der neuen Chefin, die seit kurzem bei uns angefangen hat. Ein gelungener Neustart und alles in Butter. Eigentlich...

Was noch an mir nagt, sind alte Gefühle von Groll und Schmerz und peinlicher Befangenheit. Mein Abgang war abrupt und ungut. Ich konnte einer ehemaligen Kollegin und Widersacherin zwar begegnen und freundlich mit ihr sprechen, doch innerlich war ich aufgewühlt und unangenehm berührt. An meinen ehemaligen Chef denke ich ebenfalls mit schlechten Gefühlen. Lange habe ich ihm still vorgeworfen, mich anfangs nicht unterstützt und am Schluss nicht beschützt zu haben.

Vor kurzem habe ich im Keller Unterlagen ausgemistet und dabei meine alten Terminkalender gefunden: Ich habe unglaublich viel gearbeitet und immer mehr und immer mehr. Mir wurde klar, ich hatte versucht, auf diese Art Anerkennung zu bekommen und Neuerungen zu bewirken. Bei uns gab es zwar eine Leitung, aber sie war schwach. Keine Entscheidung wurde gegen den inneren Kreis der Macht getroffen. Von diesen privilegierten und unangreifbaren Leuten wollte ich, dass sie erkennen, wie gut meine Arbeit ist und meinem Wunsch nach konzeptionellen Veränderungen folgen. Mit unausgesprochenen und überhöhten Erwartungen war ich in Vorleistung gegangen, hatte einen heimlichen Deal abgeschlossen: Je mehr ich mache, je besser ich mich auf Sitzungen vorbereite und je überzeugender ich meine Meinungen begründe, desto klarer muss ihnen werden, dass meine Ideen gut sind. Ist irgendjemand außer mir überrascht davon, dass diese Strategie in Desasterhausen erfunden wurde?

Für mich kam der Moment der Erleuchtung im Licht einer Deckenfunzel, im Keller einer Doppelhaushälfte einer Stadt mittlerer Größe an einem Samstagnachmittag.

Anderthalb Jahre zuvor hatten meine Erlebnisse rund um die Arbeit breiten Raum in meiner Inventur eingenommen, und ich konnte erste Perspektivwechsel und Differenzierungen der Ereignisse vornehmen. Weiter kam ich damals nicht. Ich war zu sehr verletzt und voller Scham und Wut, als dass ein Gedanke an Verzeihen mich auch nur gestreift hätte. Ich fühlte mich wie eine Überlebende und hatte das Gefühl, gerade noch davongekommen zu sein.

Als ich meine neue Stelle antrat, hatte ich Angst, Fehler zu machen und wieder in ähnliche Lagen zu geraten. Eine unschätzbare Hilfe war das 12-Schritte-Programm und die Arbeit mit meiner Sponsorin, auch meine Nachsorgetherapeutin hat mich sehr darin unterstützt, in schwierigen Situationen das Richtige zu tun. 

Zum Beispiel in Ruhe abzuwarten, bis meine Expertise nachgefragt wird und sie dann unkompliziert zur Verfügung zu stellen. Ich habe auch gelernt, berufliche Erfolge neu zu definieren: Heute ist ein Beratungsgespräch ein Erfolg, wenn ich dazu beitragen konnte, dass sich die Beteiligten in ihren unterschiedlichen Sichtweisen und Erfahrungen anerkannt wissen. Früher hätte mein Ego es nur dann als Erfolg gewertet, wenn meine Gesprächspartner meinen Empfehlungen gefolgt wären. 

Ich bringe mich im Kollegenkreis viel mehr ein als früher: Ich mache einfach mit, auch wenn ich es nicht so gerne mache und es Zeit und Mühe kostet. Wenn ich eingeladen werde, komme ich. Wenn eine helfende Hand gebraucht wird, sage ich möglichst ja. Das erzeugt ein nie gekanntes Zugehörigkeitsgefühl und tut mir gut. Früher habe ich mir Menschen und Veranstaltungen herausgepickt und was mir nicht gefallen hat, habe ich abgewertet. Heute verstehe ich, wie sehr dieses Verhalten zu meiner Isolation beitrug.

Mein größter beruflicher Erfolg ist heute, dass ich keine Energie mehr in Versuche stecke, ein dysfunktionales System oder Kolleginnen oder Vorgesetzte zu verändern. Ich konzentriere mein Können, meine Arbeitsfreude und meine Gelassenheit darauf, Spielräume zu nutzen und wirksam zu sein. Ich versuche, Lösungen zu finden im Bereich des Möglichen und fühle mich damit gesund und wohl. Noch nie war ich so wenig gestresst in meinem Berufsleben.

Für mich sind diese tiefgreifenden Veränderungen Zeichen meiner Genesung. In einem anderen Post habe ich schon einmal den Schleimpilz als Metapher bemüht: Quicklebendig und unaufhaltsam breitet sich die Genesung in allen meinen Lebensbereichen aus. Das ist viel mehr als ich ursprünglich erwartet hatte, als es darum ging zu lernen, wie ich das erste Glas stehen lasse.

Es hilft mir heute sehr, dass ich meine eigenen Anteile an der unglücklichen Entwicklung an meinem alten Arbeitsplatz nun deutlicher erkennen kann.  Und es ist ein gutes Gefühl, dazugelernt zu haben und vieles bewusst anders anzugehen. Ich beginne meine Tage mit einem stummen Dialog mit meiner Höheren Macht, ich bete, ich meditiere und ich richte mich auf den neuen Tag aus. So bin ich fast immer ausgeglichen und mit stiller Freude erfüllt, wenn ich meine Arbeit beginne.  Muss ich betonen, dass dieser Zustand so stabil ist wie ein Diätvorsatz und an manchen Tagen schon in den ersten fünf Minuten nach Ankunft am Arbeitsplatz verflogen ist? Ganz sicher kann ich noch viel dazulernen, überall in meinem Leben. Gleichzeitig spricht nichts dagegen, mich über das zu freuen, was heute schon gut ist und meine Fortschritte zu feiern.

Wie geht nun Verzeihen und warum sollte ich das tun?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es mir Seelenfrieden bringt, wenn ich verzeihe. Das könnte ich von den Menschen aus meinem privaten Umfeld, wo ich schon verziehen habe, nun ausdehnen auf die Menschen aus meinem ehemaligen beruflichen Umfeld. Denn dort sitzt ja noch ein Stachel, klein aber spürbar.

Heute habe ich kein Bedürfnis mehr, ihnen oder mir selbst Schuld zuzuweisen. Ich muss auch nicht mehr ihre Leistungen abwerten, weil ich mich von ihnen bekämpft fühle. Ich kann sie heute aufrichtig anerkennen. Jeden Tag bitte ich um Toleranz für jene mit anderen Schwierigkeiten. Auch meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen kämpften mit Schwierigkeiten, einige davon kannte ich: gesundheitliche Probleme, Überforderung, Arbeitsüberlastung und sehr hohe Ansprüche an sich selbst. Es mag noch viel mehr gegeben haben, von denen ich nichts wusste. Als ich noch dort gearbeitet habe, kam mir dieser Gedanke nicht in den Sinn.

Mein ehemaliger Chef hatte ebenfalls mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Teil seiner Rolle war es, das Ganze im Blick zu behalten, und da gab es viel mehr als mich und meinen Konflikt mit dem Zirkel der Macht. Heute kann ich seine Bemühungen sehen, auch seine Versuche, mir für meine Arbeit Anerkennung und Dank auszusprechen. Kurz nach meinem Abschied konnte ich ihm kein Wort glauben.

Ich kann großzügiger sein, weil ich keinen emotionalen Mangel mehr verspüre und es mir an meinem neuen Arbeitsplatz gut geht. Vieles stellt sich auf wundersame Weise von selbst ein, wofür ich früher vergeblich geackert habe: Wertschätzung, Vertrauen in mein Können und Dank für die gute, sich mehr und mehr vertiefende Zusammenarbeit. Gleichzeitig schätze ich mich selber viel mehr und ich weiß, was ich kann. Das macht mich weniger abhängig vom Urteil anderer.

Ob das schon Verzeihen ist? Ich würde mal sagen, ich bin auf dem Weg dazu. Bis dahin versuche ich, die Weisheit einer erfahrenen Hautärztin zu beherzigen: Wenn du einen Ausschlag nicht völlig abheilen kannst, dann lass ihn an einer kleinen Stelle deiner Haut zusammenschrumpfen, wo er dich nicht stört. Danke Frau Doktor, für heute ist das gut genug!

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst. 

 

Alles Liebe und Gute

Juna

PS:  Man soll niemandem etwas nachtragen. Wir haben alle schon genug zu schleppen.
Johannes von Müller

 

Kommentare

  1. Guten Morgen liebe Juna, habe mir extra Zeit genommen deinen Text zu lesen, in aller Ruhe mit Kaffee und Zigarette. Ich kann gut deine negativen Gefühle verstehen. Wenn man sich bei der Arbeit, wo man doch viele Lebensstunden verbringt nicht wohlfühlt, fühlt sich das bei mir wie ein Geschwür im Magen an. Die Tages-und Nachtgedanken sind mit giftigen Gedanken gefühlt. So empfand ich es. In AA lernte ich den Begriff "Groll" kennen. Ich konnte ihn nicht richtig auf meine Gefühle übersetzen, dachte ich doch wirklich, ich mache alles Gut, zumindest gebe mein Bestes bin immer da wo es fehlt. Bis ich durch meine Gespräche mit meiner Sponsorin den Satz hörte und verstand. Niemand erwartet das von mir, sondern meine Erwartungshaltung war an mein Familienkreis und Arbeitsumfeld zu hoch gestellt. Ich wollte es machen, damit die anderen, mein Umfeld mich auf ein Podest setzen und verehren. Klingt schräg ich weiß, ich wollte ein bisschen oder vielleicht auch mehr Opfer und Heldin sein. Heute ist das Gefühl eher ausgeglichen. Ab und an kippt nach Mal die Waage, mehr nach rechts oder links. Dann hole ich mein AA Werkzeugkasten raus, alles gelernte, daraus nehme ich mir dann etwas, lege es auf meine emotionale Waage und schon habe ich ein Gleichgewicht. Es ist so schön, dass ich jetzt meine Gefühle erkennen, benennen und gegebenfalls korrigieren oder aushalten kann. Liebe Sonntagsgrüße

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  2. Hallo liebe Juna,
    wieder ein sehr persönlicher Einblick in Deinen Weg, Deine Heilung und Genesung. Und genau weil es stets dieser persönliche Blick ist, sind Deine Texte so wertvoll um eigene Gedanken dort einzuhaken, wo sie für mich passen. Es gibt an keiner Stelle einen "erhobenen Zeigefinger" oder ein "versuch Du es doch auch mal so". Nein, Du bist ganz bei Dir und lässt uns diesen Gedanken verfolgen.
    Danke dafür.
    Wo hake ich also meine Gedanken ein? Bei der Passage zu Deinen Anstrengungen, die die anderen doch bitte nun doch verstehen und anerkennen sollen ("Je mehr ich mache, je besser ich mich auf Sitzungen vorbereite und je überzeugender ich meine Meinungen begründe, desto klarer muss ihnen werden, dass meine Ideen gut sind"). Denn wie oft ist es mir auch schon so gegangen, dass ich dauerhaft dachte, dass die Anerkennung nun doch kommen müsste wo ich doch so viel dafür tue. Insofern fühle ich mich auch als einer der Einwohner von Desasterhausen.
    Dazu passend für mich ist dann die Großzügigkeit wie Du Dich und Deine Kollegen heute betrachtest. Das strahlt Ruhe aus, Frieden, gelebte Großzügigkeit, die die Balance herstellt. Denn mit dieser inneren Großzügigkeit kann ich auch als Desasterhausener in die Welt ausziehen und das Ganze mit größerer Offenheit und Leichtigkeit angehen und betrachten.
    Daher nochmals meinen Dank für Deinen Text ... und für die vielen kleinen Ösen, die Deine Text haben, um meine eigenen Gedanken einzuhaken.
    Gute Nacht.

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  3. Liebe Juna!
    Wieder einmal habe ich mit Freude deinen Text gelesen. Einige Gedankengänge konnte ich gut auf mein Leben übertragen. Deine veränderte Sichtweise auf Herausforderungen im Leben inspiriert mich auch mutig den Weg in die Veränderung zu gehen. Nicht ganz einfach, aber wie ich immer wieder merke lohnenswert. Liebe Grüße hage-dorni

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