Drittes Weihnachten - nüchtern betrachtet

christbaumsammelplatz 

Alkohol ist mein geringstes Problem: Weihnachten stresst mich. Nicht weil ich Vorweihnachtsstress mit Geschenkefinden hätte oder einen Marathon an Weihnachtsfeiern bewältigen müsste. Auch nicht weil das Kind als Engel oder Schaf im Krippenspiel mitwirkt. Auch nicht, weil Kinderübergaben in der Patchworkfamilie durchzustehen sind. Die haben wir hinter uns - Gott sei Dank!

Nein, ich habe Weihnachtsstress, weil ich meine Erwartungen nicht loslassen kann: Es soll schön sein und festlich mit Deko und gutem Essen. Alle sollen sich wohlfühlen, die Kinder sollen auch Zeit miteinander verbringen und ohne uns. Jedes Familienmitglied soll die perfekte Balance erleben zwischen Zeit für sich selbst aber auch genug Zeit mit der ganzen Familie und für gemeinsame Aktivitäten. Ähnliches gilt auch für die Besuche der weiteren Verwandschaft: Alles schön, alles gut, alle glücklich.

Wenn ich das so schreibe, fühlt es sich an, als hätte ich Rollen in einem Edekaweihnachtsfilm verteilt, und ich muss lachen.

Tatsächlich hatte ich nach dem letzten Verwandtenbesuch einen richtigen Kater, ohne auch nur einen Tropfen getrunken zu haben. Ich hatte einen dicken Kopf, war schlapp und voller Groll und zu nichts zu gebrauchen. 

Ein unangenehmer Zustand, noch dazu einer, der in meinem Wertesystem als unkorrekt gilt. Schließlich lebe ich nach spirituellen Prinzipien, bete, meditiere, habe allen Eingeladenen verziehen und / oder Wiedergutmachungen geleistet, habe auch mir selbst verziehen und stehe damit auf der Nominierungsliste für die alsbaldige Erleuchtung, dachte ich. 

Jetzt dämmert mir, das könnte sich noch etwas verzögern.

Ausgebremst von unrealistischen Erwartungen an mich und meine Familie, von Perfektionismusresten versteckt unter einem unehrlichen "Lass es uns einfach halten!", um dann doch an zwei Tagen mehrgängige Menüs aufzutischen. 

Ausgebremst von dem Wunsch, die Kontrolle zu haben.

Ausgebremst von altem Schmerz aus Kindertagen und dem Zwang meinen Groll runterzuschlucken, obwohl eine Person sich verletzend benimmt. Ich fürchte, ein Konflikt würde die festliche Harmonie stören und könnte sogar die Beziehung in Gefahr bringen.

Ausgebremst von einem unfreundlichen Umgang mit meinem Seelenleben, denn ich werfe mir vor, immer noch über dieselben Steine zu stolpern und das Projekt Weihnachten nicht erfolgreich und lockerleicht über die Bühne zu bringen.

Geholfen hat mir ein Telefonat mit meiner lieben Freundin A., die mir die Idee mitgab, mein Stillhalten nicht als unehrlich zu verurteilen, sondern es als Dienst zu sehen. Als Dienst an den Personen, die immer noch sind wie sie waren (obwohl ich mich doch so verändert habe). Ich könnte meine gute Miene zum bösen Spiel auch als Dienst an meiner Tochter sehen, die meine alten Schmerzen zum Glück nicht kennt und weiter den Kontakt zu allen Verwandten genießen möchte.

Ein Liebesdienst an meine Familie könnte sein, ihr das Planen und Kochen aus ehrlichem Herzen zu überlassen und mich aus der Küche zu verziehen. Die Verwandten könnten wir ins Restaurant einladen.

Ich bin nicht zuständig für den Oscargewinn aller Darsteller im Edekaweihnachtsfilm. Wir könnten neu denken, ob wir nächstes Jahr wieder einen Baum wollen und wenn ja, wer ihn besorgt und schmückt, abschmückt und zur Sammelstelle bringt. Langsam frage ich mich, ob ich vor meinem Konzept von Weihnachten kapitulieren kann. So wie vor Alkohol und vielem anderen, bei dem ich keine Macht besitze. Loslassen, abgeben, die Höhere Macht übernimmt, was ich nicht schaffe.

Ein Liebesdienst für mein verletztes inneres Kind könnte sein, dass ich einen Teil der Vorbereitungsenergie in die Nachbereitung stecke: Damit rechnen, dass es eine Anstrengung ist, rechtzeitig Kraft tanken und hinterher eine Erholungspause einplanen. Mir Zeit für mich nehmen und die Bereitschaft mitbringen, meine Gefühle zu würdigen ohne sie zu werten. Und mich anzunehmen, wie ich heute bin.

Im weiteren Gespräch lenkte die kluge A. meine Gedanken auf andere Themen, die mich derzeit beschäftigen und half mir damit, mich zu sortieren: Kaum zu glauben in dem Moment, dass mein Leben nicht nur daraus besteht, Weihnachten vorzubereiten, das perfekte Fest durchzuführen und den Weihnachtskater auszuhalten. Da musste sie mich erstmal hinbringen. Danke! 

Das gab mir Kraft für die beste Tat des Tages: Der Baum ist seit gestern Abend weg, der Christbaumschmuck verpackt, das Haus sieht clean und leer aus. Wie gut!

Morgen sind wir eingeladen, dürfen uns an den gedeckten Tisch bei engen Freunden setzen. Es wird keinen Alkohol geben aber gutes Essen und aufrichtige Gespräche. Schon letztes Jahr haben wir Silvester miteinander verbracht und uns geoutet: Eine ehemals Alkoholabhängige und ein sich erholender Depressiver plus ihre betroffenen Ehepartner. Wir haben geweint und gelacht, geschlemmt und gespielt und einen wunderschönen Abend verbracht. Wenn ich daran denke, freue ich mich auf morgen.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

PS: Komm gut hinein ins neue Jahr, es möge ein gutes und erfülltes für Dich werden!


Kommentare

  1. Vielen Dank, Juna, für diese wunderschöne Betrachtung und anderen Blick auf die Weihnachtstage.
    Erst konnte ich herrlich lachen über die Beschreibung vom Krippenspiel (an der Stelle will ich meinen Lieblings-Weihnachtsfilm "Actually love" empfehlen, bei dem die Tochter die Rolle des "first lobster" beim Krippenspiel übernimmt), über den Edekaweihnachtsfilm (denn den hatte ich sofort auch vor meinem inneren Auge, als ich Deine Beschreibung las), bis hin zu dem "Lass es uns einfach halten" und dann Mehrgängemenüs aufzufahren.
    Ja, das kenne ich allzu gut. Es ist erfrischend es zu lesen und dann Deinen Gedanken zu folgen, wenn es darum geht in den Spiegel zu schauen und zu überdenken: Geht es auch anders? Ja. Vielen Dank für diesen Post und Deinen Blog. Speziell diesen Post lege ich mir "auf Wiedervorlage" für den 22. Dezember 2023.
    Dir einen schönen Jahresausklang und ein famoses Jahr 2023.

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  2. Liebe Juna. Herzlichen Dank, dass ich an deinen Gedanken teilhaben durfte. Besonderen Dank für „Nominierungsliste für die alsbaldige Erleuchtung“ und das herzhafte Lachen, das es mir beschert hat.
    Für mich ist es eines der größten Geschenke, dass ich in der Vorweihnachtszeit immer wieder von anderen Menschen in AA Meetings von ihren Problemen mit Weihnachten hören durfte. Ich bin nicht alleine. Überhöhte Erwartungen und Überempfindlichkeit……… sind nicht von mir allein gepachtet.
    Ich hatte dieses Jahr das schönste Weihnachtsfest meines bisherigen Lebens. So viel Ruhe wie möglich und vor der Familienfeier für Gelassenheit beten.
    Liebe Grüße und alles Gute für das kommende Jahr.
    hage-dorni

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