Käseknacker im Auto und mein alter Vater im Krankenhaus - wie ich scheiterte, ehrlich zu sein

 

Meine Sponsorinnen in Zwölf-Schritte-Programmen haben Superkäfte. 

So kenne ich es von meiner Sponsorin in AA und mache jetzt wieder dieselbe Erfahrung mit meiner neuen Sponsorin in EDA: Kraft ihres Amtes genesen wir nur, wenn wir ehrlich zu ihnen sind und Kraft der Höheren Macht sind sie gütig und liebevoll und unterstützen uns genau darin: ehrlich zu sein mit uns und den anderen.

Ihre Gegenspieler sind meine Ängste, Scham, mangelndes Vertrauen und meine mächtigen Glaubenssätze, deren Haltbarkeitsdatum noch nicht abgelaufen ist, obwohl sie sehr alt sind.

Ich hatte ein Gespräch mit meiner Sponsorin rund um den Ersten der Zwölf Schritte, bei dem es darum geht, die eigene Machtlosigkeit gegenüber der Ess-Störung zuzugeben und darüber hinaus einzuräumen, dass wir unser Leben nicht mehr im Griff haben. Damit ist gemeint, dass wir in Zusammenhang mit der Sucht Verhaltensweisen an den Tag legen, die ungesund sind, nicht unseren Werten entsprechen, Beziehungen belasten oder anderweitig unser Leben schwermachen.

Meine Ess-Störung begann im Kindesalter, so sehe ich das rückblickend. Als ein Zeichen dafür werte ich, dass ich irgendwann anfing, heimlich zu essen und mein Taschengeld für Naschereien auszugeben, die streng verboten waren. Heute bin ich erwachsen und habe immer noch meine Ess-Störung, aber Heimlichkeiten rund ums Essen gibt es nicht mehr. Dachte ich.

Bis mir von meiner Superkräftebesitzerin die kleine Frage gestellt wurde, ob es heute noch Formen von heimlichem Essen in meinem Leben gebe. Und da ploppten sie auf: Die Käsewürstchen im Auto. Die sind in jeder Hinsicht doppelt: als Würstchenpaar und als Heimlichkeitskumpels, denn ich bin auch noch Vegetarierin. Ich habe sie mir gekauft und im Auto gegessen mit einer Gefühlsmischung aus Scham, Freude am salzigen Wurstgeschmack und Ärger über mich selbst. Das hatte ich bis zu diesem Moment noch nie jemandem erzählt und es war befreiend und reizte zum Lachen, denn ich habe wahrscheinlich beim heimlichen Futtern über meine Schulter geblickt, als hätte ich einen USB-Stick mit brisanten Geheiminformationen in der Hand und keine unschuldigen Käseknacker.

Die Lösung liegt nahe, wenn wir uns daran erinnern, dass wir nur so krank sind wie unsere Geheimnisse: Also habe ich meinem Mann davon erzählt und wir konnten zu zweit darüber lachen. Als ich einige Zeit später ein großes Verlangen nach einem Stück Fleisch hatte, kaufte ich eins, briet es mir zuhause und aß es am Familientisch. Gut war's -  in jeder Hinsicht.

Ich kann mir eine Ausnahme erlauben und ich kann großzügig zu mir sein. Auch das ist für mich ein sorgsamer und ehrlicher Umgang mit mir selbst und anderen. Heimlichkeiten ans Licht zu bringen, stärkt mich, weil es die Scham verscheucht und wenn ich davon erzähle und es hier schreibe, festigt sich die gute Erfahrung. 

Schon an dieser Stelle deshalb ein Dankeschön fürs Lesen!

Mein Vater ist alt, aber zum Glück gesund. Trotzdem landete er im Krankenhaus, weil er unglücklich gestürzt war und mich an seiner Seite brauchte. Notlügen ist eine meiner erfolgreichsten Disziplinen, und ich weiß, sie wirken am glaubwürdigsten, wenn sie einen realistischen Kern enthalten. In Wirklichkeit saß mein alter Herr wohlbehalten und nichtsahnend zuhause, als ich ihn zum Hauptdarsteller meiner Story machte. Ich glaubte, ein Schuss Dramatik wäre nötig, um meine Lüge noch glaubwürdiger zu machen. 

Diese Geschichte ist ein anschauliches Beispiel, wie sich mein Denken komplett aufhängen kann: Es ging darum, dass ich mich einem Dienst in einem EDA-Meeting nicht gewachsen fühlte, weil ich die Technik noch nicht beherrschte. An diesem Tag fand ich keinen Ausgang aus meinem durchdrehenden Gedankenkarussell. Meine eigene Stimme wurde überschrien von den Stimmen meiner inneren Kritiker, Kleinmacher und Glaubenssätzeverkünder: "Nein, deine Sponsorin kannst du jetzt nicht anrufen, sie arbeitet bestimmt!" "Selber schuld, dass du zu doof bist, das Erklärvideo zu verstehen, die anderen kriegen das doch auch hin!" "Beten hilft da auch nicht!" "So kurzfristig absagen, ist mehr als peinlich!" "Hast dich mal wieder übernommen, hättest auch noch warten können, bevor du Dienste übernimmst!" "Komm, iss lieber noch ein Stück Schokolade, das tut dir gut!" und so weiter und so weiter.

In dem Moment, als ich die Mail an meine EDA-Freundinnen mit meiner Lügenstory schrieb, um meinen Dienst abzusagen, wusste ich schon, das gibt einen 10. Schritt: Fehler geben wir sofort zu und bieten Wiedergutmachung an. Zusätzliches Futter bekam mein schlechtes Gewissen durch die überaus liebevollen und mitfühlenden Antworten, die ich bekam: Gebete für meinen Vater und selbstverständlich die Rückübernahme meiner Meetingspflichten bis auf weiteres. Mein Bildschirm glühte, und mein Herz brannte vor Scham und Verzweiflung.

Am nächsten Tag hatte ich wieder einen Gesprächstermin mit meiner Sponsorin, und ich beichtete auf der Stelle. Ihre Superkraft Nummer Zwei übernahm, und sie bestärkte mich darin, mich zu entschuldigen und gleichzeitig war sie voller Liebe und Verständnis. Sie lobte mich sehr für meinen Mut und die klare Absicht, das ins Reine zu bringen.

Meine EDA-Freundinnen schrieben mir auf meine Entschuldigungsmail folgendes zurück: Wow, wie mutig von dir, das zuzugeben! Wie schön, dass es deinem Vater gutgeht und drittens: Mach dir keinen Kopf, diese Art Lügengeschichten habe ich auch schon tausendmal in meinem Leben erzählt. Bitte komm weiter ins Meeting, ganz ohne Dienst und wir freuen uns auf Dich!

Als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet - zum Glück in der spirituellen Umgebung meines Zwölfschritteprogramms, in dem ich Mensch bin und sein darf. Die Kunst besteht darin, aus der Geschichte zu lernen und beim nächsten Mal, vorher den Ausstieg aus dem Karussell zu finden und gar nicht erst zu glauben, eine Lüge sei die Lösung. An diesem Ausstiegsplan tüftele ich noch mit meiner Sponsorin.

Das Gute für mich ist, dass sowohl das Käsewürstchenabenteuer als auch die Notfall-in-der-Familie-Lüge mir deutlich machen, ich erfülle die Kriterien für den Ersten Schritt voll und ganz.

 

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna 

"Einen Fehler durch eine Lüge zu verdecken, ist wie einen Fleck durch ein Loch zu ersetzen."
Aristoteles
 
"Integrity restores sanity."
EDA
Das übersetze ich so: "Ehrlichkeit mit dir selbst stellt deine Vernunft wieder her."

 


 

 



 

Kommentare

  1. Liebe Juna, vielen Dank für deinen Blog, ich las wieder mit großem Interesse und freue mich über deinen Humor. Als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet, das ist köstlich😄. Ich freue mich auch, dass du dich bei deinen Sponsorinnen gut aufgehoben fühlst und bestens betreut wirst, das ist eine gute Grundlage für Genesung und spirituelle Entwicklung. Aber die beste Hilfe kann nur wirken, wenn sie angenommen und umgesetzt wird, alle Achtung für deine Ehrlichkeit.
    Ich freue mich, dass du deinen Genesunsprozess mit mir und anderen teilst.
    Liebe Grüße B.

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  2. Liebe Juna,
    mit großer Freude und mit Genuss habe ich deinen Text gelesen. Ungewohnt dauerte es tagelang, bis ich ruhige Minuten zum Lesen fand. Neue Familienverpflichtungen. Ganz ehrlich! 
    Mit meinen alten Glaubensätzen mache ich in letzter Zeit auch so meine Erfahrungen. Gute Erfahrungen! Sie lieben es nämlich gar nicht, wenn ich sie erwische. Sie wollen im Unbewussten arbeiten und mich und mein glückliches Leben sabotieren. In herausfordernden Situationen nehme ich mir einen Moment und überlege, welche alten Glaubensätze die Richtung meines Denkens, Fühlens und Handelns übernehmen wollen. Es gelingt nicht immer, aber immer öfter.
    „Wir sind nur so krank wie unsere Geheimnisse“ ist ein so zutreffender Slogan. Ich werde mal schauen, was meine „Käseknacker“ sind.
    Über einen Blogbeitrag würde ich mich sehr freuen, wenn du mit dem „Ausstiegsplan aus dem Karussell“ weiter gekommen bist.
    Ich danke dir für die wieder einmal wunderbare Mitnahme auf deiner Genesungsreise.
    Liebe Grüße hage-dorni

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