Zugehört – jeder Mensch sollte eine Hedwig in seinem Leben haben

Meiner Freundin Hedwig höre ich einmal in der Woche am Telefon zu und sie mir. Neben dem Austausch von Neuigkeiten in unseren Familien, geht es vor allem um unsere Genesungsfortschritte. Wir sind Reisegefährtinnen und begleiten die Heilungsreise der anderen mit Zuhören, Nachfragen, Anteil nehmen und Dankbarkeitslisten teilen. Wir können zusammen lachen und auch mal traurig sein. Wir sind füreinander da, und sie steht auf meiner kurzen Liste von Menschen, die ich mitten in der Nacht anrufen würde, wenn ich Angst habe oder es mir schlecht geht. Ihr kann ich selbst meine peinlichen Gefühle zeigen, und sie ist gut darin, meine verknoteten Gedanken ordentlich aufzudröseln.

Wir kennen uns aus der Selbsthilfegruppe und sind beide dankbar und glücklich über unser Leben ohne Alkohol. Beide beschäftigen wir uns mit Spiritualität. Wir versuchen, unsere täglichen Routinen lebendig zu erhalten. Wir denken nach und wir versuchen die 12 Schritte des Programms in unserem täglichen Leben anzuwenden. Dabei gibt es Aufs und Abs, Stolpersteine liegen herum, wir machen Umwege und treten manchmal auf der Stelle, aber zum Glück sind wir noch nie in eine Sackgasse ohne Wendemöglichkeit geraten.

Diese Woche ging es um den richtigen Zeitpunkt für eine Aussprache. Bei ihr ging es um einen Konflikt mit einer Freundin, bei mir um seelische Verletzungen, die ich verursacht habe und über die meine Tochter zur Zeit nicht mit mir sprechen möchte.
Hedwig hatte alles Mögliche versucht, um ihren Konflikt in sich zu befrieden. Sie erzählte mir davon am Telefon. Sie machte sich viele Gedanken dazu und schrieb sie auf. Dann versuchte sie, ein Kommunikationsmodell auf die Sache anzuwenden, und es vergingen Wochen, ohne dass ihre Seelenlast leichter wurde.

Bei mir hatte ein Ereignis dazu geführt, dass alter Schmerz plötzlich von meiner Tochter geäußert wurde, sie aber mein Nachfragen abwehrte. Einen Tag später nutzte ich einen ruhigen Moment und sprach sie nochmal darauf an. Sie konnte mir einiges sagen und weinte dabei. Es ging um die Zeit, als ich noch trank und sie Angst hatte, nach Hause zu kommen und mich betrunken vorzufinden. Zu einer Aussprache mit Hilfe von außen, zum Beispiel ihrer Therapeutin, ist sie noch nicht bereit. Zu sehr fürchtet sie, wenn die unangenehmen Wahrheiten auf den Tisch kommen, würde das unser Zusammenleben und unsere Beziehung beschädigen. Ich habe sie in den Arm genommen und ihr gesagt, das würden wir ohne Schaden schaffen. Ich würde ihr genau zuhören und nichts rechtfertigen, sondern meine Fehler zugeben und alle ihre Gefühle dürfen gesehen werden. Mehr konnte ich in diesem Moment nicht tun.

Das erzählte ich Hedwig gleich am nächsten Tag, das konnte nicht bis zum regulären Telefontermin warten. Durch ihr sanftes und kluges Nachfragen wurde ich innerlich klarer und ruhiger. Ich kam so weit, dass ich sagen konnte, ich sei bereit, die nächste Zeit abzuwarten und keine weiteren Schritte mehr zu unternehmen, um mehr von meiner Tochter zu diesem Thema zu erfahren. Durch die Unterstützung meiner Freundin konnte ich in eine zunehmend entspannte Wartehaltung gehen.

Inzwischen schwelte Hedwigs Konfliktgeschichte weiter. Sie sprach nicht mehr davon, daher hatte ich angenommen, es sei für sie kein Problem mehr. Bis ich in ihrer Dankbarkeitsliste von einem erlösenden Gespräch las, und ich nahm mir vor, sie bei unserem nächsten Telefonat danach zu fragen.

Die Lösung vorneweg: Es gab ein Happy End durch eine Aussprache mit der betroffenen Person am Telefon. Ein ehrliches und liebevolles Gespräch, eine ausgeglichene Begegnung und die Bereitschaft, Fehler zuzugeben führte dazu, dass der Schmerz verschwand und beide sich wieder miteinander wohlfühlen.

„Das nächste Mal kriege ich das hoffentlich schneller hin“, meinte Hedwig zu mir. „Vielleicht ging es gar nicht schneller, vielleicht war es der frühestmögliche Zeitpunkt“, antwortete ich. Auf beiden Seiten musste Zeit vergehen, Ärger musste vergehen und die Bereitschaft wachsen, den Konflikt beizulegen. „Ich wusste es von Anfang an, dass ich sie anrufen sollte“, sagte Hedwig, „aber ich wollte nicht, ich wollte es irgendwie nicht machen."

Zum richtigen Zeitpunkt gehört die Bereitschaft auf beiden Seiten. Hedwig machte den ersten Schritt, die Freundin erklärte, auch sie habe daran gedacht, aber die Kurve nicht gekriegt.
Zum richtigen Zeitpunkt gehört aber auch, dass wir nicht länger versuchen, die Kontrolle zu behalten. Hedwig erwog, so anzurufen, dass die Freundin, falls sie nicht drangeht, den Anruf nicht in ihrer Liste sehen kann. Den technischen Kniff dazu kennt Hedwig. Aber sie entschied sich bewusst dagegen: Sie wollte das Gespräch, wann immer die Freundin Zeit hätte und sie zurückrufen würde. Sie war bereit.

Gesprächsbereitschaft auf beiden Seiten, den inneren Prozessen aller beteiligten Personen Zeit lassen, die Kontrolle über das Setting des Gesprächs abgeben und keine Bedingungen stellen, Vertrauen haben, dass der richtige Zeitpunkt kommen wird, das alles betrachten Hedwig und ich als Voraussetzungen für eine gelingende Aussprache. Es gibt gute Gründe dafür, warum es dauern kann. Und die inneren Abläufe der anderen Person bekommen wir ja meistens nicht mit.

Für Hedwig war der Moment da, als sie zum Telefon griff und bereit war, ihre Ängste und anderen unangenehmen Gefühle zu überwinden und den Versuch einer Aussprache zu wagen. Und auch die Freundin am anderen Ende war bereit. Auch sie war durch einen inneren Prozess gegangen.

Mir hilft Hedwigs Erfahrung dabei, meinen eigenen inneren Prozess aber vor allem den meiner Tochter zu respektieren. Heute kann ich sagen, mein Teil besteht darin, bereit zu sein, wenn sie es ist.
Bis dahin kann ich jeden Tag üben, geduldig und liebevoll zu sein und zum Glück gibt es ja die Telefonate mit Hedwig, immer mittwochs.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

 PS: Auch für das Schreiben eines neuen Blogeintrages musste ich auf den richtigen Zeitpunkt warten, 71 Tage hat es gedauert.


 

Kommentare

  1. Danke liebe Juna, dein Blog ist für mich ein großer Gewinn! Ich freue mich immer, von dir zu hören. Ohne Ungeduld zu warten und zuzuhören, ohne dem Wunsch zu folgen, sich zu rechtfertigen, ist gar nicht leicht für mich. Ich wünsche dir alles Gute, viel Geduld und wenig verhaftet sein in Schuldgefühlen. Ich machte die Erfahrung, dass die Kinder damit nicht gut umgehen können. Die Wiedergutmachung besteht im Trocken bleiben.
    Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende

    AntwortenLöschen
  2. Liebe Juna, wie schön wieder etwas von dir lesen zu dürfen! Auch ich kenne das Gefühl von ganz besonderen Verbindungen mit "vertrauten Wegbegleiterinnen". Es ist erstaunlich, wie aus meinem einst größtem "Feind Alkohol" die Grundlage für Veränderung, Verbindung zu Gleichgesinnten und vor allem Abstinenz werden konnte.

    Ich habe mit zwei meiner drei erwachsenen Kindern Wiedergutmachungsgespräche geführt. Nach circa einem Jahr "Trockenheit" war dazu die richtige Zeit gekommen. Mit meiner älteren Tochter darf es noch ein bisschen "reifen". Früher wollte ich immer Alles und das sofort. Heute denke ich zum Glück häufiger an die drei GGGs. Geduld, Geduld, Geduld.

    Ich danke dir für deinen schönen Beitrag und dass du uns an deinen Gedanken teilhaben lässt.

    In Liebe hage-dorni

    AntwortenLöschen
  3. Liebe Juna,
    schön, dass du wieder einen neuen Blogeintrag mit deinen Gedanken geteilt hast. Ich habe es schon vermisst mit dir - oder besser gesagt angeregt durch dich - über Themen nachzudenken. Und dieser Eintrag ist wieder so ein Anschubser: Wie oft sitze ich vor Themen, die es fertigzustellen gilt. Sitze ich vor dem Telefon, ob ich anrufen soll.
    Es heißt auf den richtigen Moment zu warten. Der wird kommen. In diesem Wissen kann ich mit deutlich mehr Gelassenheit Zeit verstreichen lassen.

    Eine Hedwig? Die habe ich noch nicht. Aber der Gedanke ist wunderbar.

    Liebe Grüße

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

4 Jahre Nüchternheit und Genesung - und was kommt jetzt?

Wie geht Verzeihen? Teil 3: Meiner Mutter

Feiern im Kloster - Begegnung mit einer unerwarteten Rückfallgefahr

Alkoholikerin - Unwort oder Starthilfe?

Sommerreise durch Südengland Teil 3 - der Ladies Lunch in Haywards Heath

Sommerreise durch Südengland Teil 2 - ein Buchladen und ein Frauenmeeting in Bath

Sommerreise durch Südengland Teil 1 - auf den Spuren von Bill W.

Von den Profis beten lernen - ein ungeplanter Kirchenbesuch

Aus der Werkzeugkiste - Der Liebesbrief

Wie geht Verzeihen? Teil 1: Mir selbst