Eine Kerze für Annemarie - Beziehungen über den Tod hinaus

  

Ein Geburtstag kommt, ein Datum, das ich nicht vergesse, auch wenn die Person schon lange verstorben ist. Heute zünde ich eine Kerze an. Ich denke an eine Frau, in deren ich Haus ich kam, weil ich mit ihrem Sohn zusammen war und mein eigenes Zuhause keins mehr war. Irgendwas zwischen abgehauen und rausgeschmissen, so würde ich die Umstände beschreiben, unter denen ich mit 17 mein Elternhaus verlassen hatte. Sie war gütig, fürsorglich und liebevoll. Ich mochte sie von Anfang an. Sie wurde eine meiner Ersatzmütter, die ich eine Zeit in meinem Leben brauchte. Später wurde sie meine liebe Schwiegermutter und nach der Scheidung von ihrem Sohn blieben wir noch Jahre in Kontakt, bis es ihr eines Tages nicht mehr möglich war, mich heimlich zu treffen. Nicht ihr Sohn, sondern ihr Ehemann unterband unsere Freundschaft.

Sie ist schon viele Jahre verstorben, genau wie meine Mutter, wie mein erster Freund und ein weiterer Freund, der erste Mann, mit dem ich geschlafen habe. Und wie mein Patenonkel, der mein Studium finanzierte. Und seine Frau, die nach seinem Tod mir noch weiter meine Studentenbude zahlte und eines Tages das Geld nicht mehr zurückhaben wollte. Und wie ein Freund meines älteren Bruders, der erste Drogentote, den ich kannte. Und wie ein Klassenkamerad, der nach den Ferien nicht wiederkam. Uns Kindern hat man damals nichts erklärt. Wie ein Spielfreund meiner Tochter, der in der Grundschule ganz plötzlich verstarb. Wie die Tochter meines Mannes, die als Teenager starb und wie ein ganz alter Nachbar von gegenüber. Wie meine Großväter und Großmütter. Wie meine Urgroßmutter, nach der meine Tochter ihren zweiten Vornamen bekam. Wie eine weitere Ersatzmutter, die wir zwei Jahre bis zu ihrem Tod noch nachbarschaftlich betreuten und jeden Sonntag bekochten. Und noch eine Ersatzmutter, die ich in einer Klinik kennengelernt habe. Wir waren Leidensgenossinnen und sie einst eine große Dame mit Berliner Schnauze. Nach vielen Jahren riss der Kontakt ab, und ich habe nie erfahren, wann und wie sie verstorben ist.

So unterschiedlich waren die Beziehungen, so unterschiedlich die Todesumstände und so unvergleichbar ist das Ausmaß an Trauer und Schmerz. Doch eins verbindet diese Menschen: Ich habe sie gekannt und denke immer noch an sie, die ersten, die ich verloren habe, sind schon mehr als 50 Jahre tot. 

Die unterschiedlichsten Auslöser rufen Erinnerungen wach: Der Baum in unserem Garten, unter dem ein Brief vergraben ist, den meine kleine Tochter ihrem toten Freund zum Abschied geschrieben hatte, ein Oldtimer, der vorbeifährt und an den alten Nachbarn erinnert, der dafür eine Schwäche hatte. Beim Kochen, wenn ich ein altes Familienrezept zubereite. Ein Jahrestag, Geburtstag, Todestag, ein Lied im Radio, eine Lieblingsblume, ein Buch aus dem Nachlass, ein Geruch, ein Weihnachtsbrauch, ganz egal: Mein Gedächtnis spült die unglaublichsten Details wieder hoch, und ich fühle mich verbunden.

All diese Menschen finden immer noch einen Widerhall in meiner Seele: lustig, traurig, zärtlich, verblüfft, schmerzlich, friedlich, einverstanden oder aufbegehrend gegen einen Tod lange vor der Zeit, dankbar für Erlösung von Qualen einer leidenden Person, Schockwellen immer noch spürbar, nie endendes Mitgefühl mit den Müttern und Vätern, stetig trauernd und vermissend oder endlich gelöst und den Tod akzeptierend an sie denken können.

Zu meiner Mutter habe ich immer noch eine Beziehung, zu der gehört, dass ich fast täglich an sie denke. Dieses Jahr habe ich zum ersten Mal seit 17 Jahren ihren Todestag vergessen.  Jahr für Jahr seit ihrem Tod lief derselbe Film der Erinnerung in meinem Kopf ab: die Operation, der Herzstillstand, das Koma und schließlich ihr hart erkämpftes Sterben. Dieses Jahr habe ich darüber hinweggelebt, ganz in meinem Leben konzentriert und unerreichbar für Trauer und Schmerz. Ein Teil von mir war schockiert, wie konnte ich nur so einen wichtigen Tag verpassen, an dem ich sonst eine Kerze für sie angezündet und eine Gerbera hingestellt habe. Der andere Teil begrüßte das Vergessen als Erleichterung und Fortschritt in der Trauer. Es tut mir gut, zu erleben, ich kann an meine Mutter denken, sie weiter lieben, mal tief trauern, dann wieder locker im "Was würde Mama wohl dazu sagen?"-Modus sein. Ich kann lachen über Unsinn, den wir gemacht haben, schöne Erinnerungen haben und gleichzeitig darf eine belastende Erinnerung verschwinden, so wie dieses Jahr.

Wenn ich in einer fremden Stadt bin, zünde ich gerne Kerzen in der Kiche an und denke an meine Toten oft mit großer Liebe und Dankbarkeit. Sie sind fort, und es ist die Endgültigkeit des Verlusts, die mich am Anfang der Trauer fast von den Füßen riss. Sie sind fort, aber ich denke an sie, manchmal bewusst, manchmal durch äußere Umstände an sie erinnert. Sie sind fort, aber ich kenne ihre Namen und ihre Geschichten. Ich habe sie gekannt. Ich habe mit ihnen gelebt. Ich denke an sie, weine um sie, lache dabei und bin dankbar, dass es sie in meinem Leben gab. 

Auf eine unfassbare Art sind sie immer noch da. Haben ihre Spuren in meinem Leben hinterlassen - unauslöschlich. 

Und der Ort, an dem ich sie finde, ist in mir. In meinem Denken und Fühlen, in meinen Erinnerungen, ja sogar in Gewohnheiten, die ich übernommen habe. Beim Hemdenbügeln beginne ich mit dem Kragen, genau wie meine Mutter es machte. Ganz ehrlich - ich finde sie auch in Vorlieben und Abneigungen, die ich hege. Wenn ich blau mit grün trage, sagt meine Oma in meinem Kopf: "Grün und blau, Hampelmanns Frau!"

Der Abschied ist endgültig, aber die Verbindung existiert weiter und das tröstet mich heute.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna
 
PS: In ihrem Buch "Ich lebe mit meiner Trauer" beschreibt die bekannte Trauerbegleiterin Chris Paul die Veränderung in der Trauer, wenn die Verbundenheit nicht mehr nur durch Tränen und Schmerz ausgedrückt werden muss. Das innere Band wird lockerer, und sie vergleicht es mit einer Drachenschnur im Wind: 
     
"Der Verstorbene ist wie der Drache in zuverlässiger, aber nicht greifbarer Ferne immer dabei."

Kommentare



  1. Liebe Juna,

    es war gut über deine Gedanken und Gefühle zum Thema Tod zu lesen. Selten wird es in meinem Umfeld thematisiert. Mit 26 Jahren erlebte ich erstmals den endgültigen Abschied von einem geliebten Menschen. Mein Vater starb binnen acht Monaten an Krebs. Ich habe mich damals intensiv auf seinen Todesmoment vorbereitet. Am meisten halfen mir Bücher von Elisabeth Kübler-Ross. Der Tod hatte damals für mich seinen Schrecken verloren. Seitdem fällt es mir nicht mehr schwer Menschen in ihrem letzten Lebensabschnitt oder gar in ihren letzten Tagen zu begegnen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Menschen, die mit mir tief verbunden waren, eines Tages in welcher Form auch immer, im Jenseits auf mich warten und mich herzlich empfangen werden.

    In deinem Text geht es aber mehr um die Erinnerung an liebe Menschen als ums Abschiednehmen und da haben mir einige deiner Gedanken ausgesprochen gut gefallen. Es hat mich gefreut, wieder einmal eine andere Seite von dir kennen zu lernen. Gehab dich wohl! hage-dorni

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  2. Liebe Juna, danke für deinen Blog, ich habe ihn wieder mit großer Freude und Anteilnahme gelesen. In meinem Alter hat man natürlich auch schon viele Menschen verloren und betrauert. Immer noch finde ich es unerhört, dass der Tod keinen Kontakt erlaubt, von jetzt auf nachher wurden meine Lieben für mich unerreichbar. Mein Erwachsenen-Ich kommt damit klar und findet sich ab, mein Kinder-Ich wüsste gerne, wie es ihnen allen geht. Es hat mich berührt, dass du, wie ich, in Kirchen Kerzen anzündest, ich bitte dabei um Frieden für sie und bedanke mich für die gemeinsame Zeit und die Spuren, die sie in meiner Erinnerung hinterlassen haben.
    Zum Thema: Falls du Lust hast, ich fand den Film "Sterben" sehr gut. Liebe Grüße und bis bald B.

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