Tausend Tage nüchtern sein - vom Rettungsschirm zum Lebensstil

Freiwillig habe ich nicht aufgehört zu trinken. Gezwungen hat mich die Angst, ich könnte alles zerstören und verlieren, was mir lieb und teuer ist: Meine Familie, meine Ehe, meine Arbeit, meinen Lebenssinn, meine Lebensfreude und zum Schluss mich selbst.

Den Zeitpunkt, mir und meiner Umgebung einzugestehen, dass ich alkoholabhängig geworden bin, habe ich lange hinausgezögert: Wenn ich den Elefant im Raum beim Namen nenne, muss ich aufhören zu trinken. Jahrelang war ich dazu nicht bereit. Ein Leben ohne Wein war für mich nicht denkbar. Ich wollte weiter trinken: gesellschaftsfähig sein und nicht ausgeschlossen, die Wirkung der ersten Gläser genießen, meinem Verlangen nach Wein nachgeben, mich entspannen, mich belohnen, mich ablenken, betäuben und vergessen. Es ging mir abgrundtief schlecht mit dem Trinken, aber ich hatte keine Vorstellung, wie es ohne Alkohol gehen könnte.

Mein Weg in die Nüchternheit begann mit einer Reihe von Bekenntnissen: zuerst gegenüber einer unbekannten Psychotherapeutin aus dem Internet, dann kam mein Mann, dann mein Hausarzt, die Mitarbeiterin in der Suchtklinik, in die ich wollte und schließlich meine 17-jährige Tochter, der ich nun sagen konnte, dass ich mir Hilfe hole und dazu ein paar Wochen weg sein würde. Es kostete mich jedes Mal Überwindung und es flossen auch Tränen, aber ich spürte die Kraft, die zu mir kam, als ich endlich aufhören konnte, zu vertuschen und zu lügen. Endlich konnte ich über den größten Horror meines Lebens sprechen, endlich konnte ich mir Hoffnung erlauben und meine Familie sich auch – der Elefant war fort.

Ich hatte eine Maschine in Gang gesetzt und ihr Rhythmus trug mich mit: Alle Alkoholvorräte und Berge von leeren Flaschen warf ich weg. Das tat ich allein, weil ich mich brennend schämte. Wir hatten offen besprochen, in unserem Haus würde kein Alkohol mehr getrunken werden. Damit war ich eine Verpflichtung eingegangen, auch das stärkte mich. Ich packte meine Koffer und mein Mann brachte mich in die Klinik.

Dort machte ich mit, diskutierte nicht, sondern nahm jedes Angebot wahr. Ich war verzweifelt bereit, alles zu tun, um endlich das Trinken stoppen zu können. Um mich herum waren reflektierte Menschen, klug und mit viel Lebenserfahrung, gestandene Persönlichkeiten, sympathisch und willensstark, allesamt immer wieder rückfällig. Das jagte mir eine Höllenangst ein: wenn selbst solche Leute es nicht schaffen, wie sollte ich es hinkriegen? Ich hörte ihnen genau zu, manche analysierten in der Gruppentherapie die Dramaturgie ihrer Rückfälle. Ich lernte aus ihren Erzählungen, dass ich Nachsorge und ein lebenslanges Gesundheitsmanagement brauche. Von der Alkoholsucht gibt es keine Heilung in dem Sinne, dass ich eines Tages wieder „normal“ trinken kann. Aber solange ich keinen Alkohol zu mir nehme, würde ich ein gesundes, unauffälliges Leben führen können. Wie ein Leben ohne Alkohol geht, das musste ich lernen, wenn ich die geschützte Lage in der Klinik verlassen und im Alltagsleben zuhause ankommen würde.

Meine Startbedingungen waren die allerbesten: Ich hatte eine gute medizinische und psychotherapeutische Behandlung in der Klinik bekommen. Mein größtes Problem zuhause war die extrem belastende Situation in meiner Arbeit. Aber ich wusste, ich hatte gute Chancen auf einen Arbeitsplatzwechsel. Mein Hausarzt unterstützte mich durch eine lange Krankschreibung, so dass ich mich in meinem Tempo erholen konnte. Ohne den Druck, bei der Arbeit funktionieren zu müssen, konnte ich meine Entzugserscheinungen wie Schlaflosigkeit und schwere Kopfschmerzen akzeptieren. Man hatte mir gesagt, sie würden vorübergehen. Dieselbe Therapeutin, die ich so verzweifelt aufgesucht hatte, hatte einen Platz frei und würde mich weiter behandeln.

Ich profitierte auch von dem strengen Lockdown im Frühjahr 2020. Es gab keine Einladungen oder andere soziale Kontakte, bei denen ich Alkohol hätte ablehnen müssen. In Ruhe und Abgeschiedenheit konnte ich mich seelisch und körperlich zusammensammeln und in meine Nüchternheit hineinwachsen.

Meine Familie half mir, weil sie mich nicht abwertete oder verurteilte, sondern mit liebevoller Anteilnahme und ehrlichem Interesse meine Genesung begleitete. Auch von meinem Vater und engen Freunden, die ich eingeweiht hatte, erfuhr ich Verständnis und Anerkennung für meine Entscheidung, mich behandeln zu lassen und ein abstinentes Leben zu führen.

Als Selbsthilfegruppe hatte ich mir die Anonymen Alkoholiker ausgesucht. Sie hatten sich in der Klinik vorgestellt und mich beeindruckt mit ihrer langjährigen Nüchternheit, entwaffnenden Offenheit und herzlichen Hilfsbereitschaft. Sie waren der lebendige Beweis, dass man stabil nüchtern leben kann und konnten schon lange, was ich erst noch lernen musste. Sie waren meines Wissens nach die einzige Selbsthilfegruppe, die während des Lockdowns ein Angebot machte, per E-Mail, per Telefon und auch in Videokonferenzen konnte man sich weiter austauschen und gegenseitig helfen.

Wie meine ersten Monate verliefen, habe ich hier in diesem Blog schon in anderen Beiträgen beschrieben zum Beispiel in diesem hier: "Be sober - das erste Jahr". Der Link dazu: https://meinlebenohnealkohol.blogspot.com/2022/07/be-sober-das-erste-jahr.html oder auch hier: "Aus der Werkzeugkiste - der Achtsamkeitskalender". Der Link dazu: https://meinlebenohnealkohol.blogspot.com/2022/08/aus-der-werkzeugkiste-der.html 

Enorm war die Unterstützung durch die Selbsthilfegruppe. Das von mir Erzählen in den Meetings und das Zuhören ohne Bewertung bei dem, was andere AA-Freundinnen und Freunde von sich preisgaben, hat mich durch das erste und zweite Jahr der Nüchternheit getragen: durch ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung fühlte ich mich sicher und nicht länger einsam. Ich war eine von vielen Betroffenen.

Das AA-Programm basiert auf den Zwölf Schritten. Hier geht es um viel mehr als das Weglassen von Alkohol. Die Schritte verkörpern ein Wertesystem und eine spirituelle Lebensweise. Ich habe mir eine Mentorin gesucht, bei den AA heißt das Sponsorin, die mir half, die Schritte zu verstehen und zu arbeiten. Das reicht von der Idee einer Höheren Macht, über eine Rückschau auf das eigene Leben und das Entdecken ungünstiger Verhaltensmuster, über Wiedergutmachungen bei Personen, die wir verletzt haben und hin zu einer Lebensweise mit Selbstreflexion, Achtsamkeit, Gebet und Meditation, Selbstfürsorge und Einsatz für andere Betroffene. Ich habe auf diese Weise nach und nach mein Leben in Ordnung gebracht, und ich bin davon überzeugt, ohne die Menschen in AA und ohne meine Höhere Macht hätte ich meinen Weg so nicht gehen können. Dafür bin ich dankbar, an jedem einzelnen der mittlerweile 1000 Tage plus x.

Am Anfang ging es darum, nüchtern zu bleiben und bloß keinen Rückfall zu bauen, das erste Jahr kann daher unter dem Motto: „be sober“ laufen. Im zweiten Jahr ging es viel um die Werte in meinem Leben: freundlich und gütig zu sein, eher zuzuhören als selber zu sprechen, warten und aushalten lernen, weniger zu bewerten, Gelassenheit zu üben, beten zu üben und auch mir selbst achtsam, verzeihend und fürsorglich zu begegnen. „Be kind“, sei gütig, auch zu dir selbst! Im dritten Jahr kann man an Mut, an Tapferkeit und an das „halte durch“ denken: „be brave“. Meine persönliche Übersetzung lautet: „hab Vertrauen“. Vertraue dir selbst, deiner Höheren Macht, vertraue deinen Mitmenschen und hab Vertrauen ins Leben.

Be sober - be kind - be brave, das steht im Untertitel dieses Blogs: Diese Worte geben mir Klarheit und Kraft und ich sehe jeden Tag, wie sich meine Nüchternheit in allen Bereichen meines Lebens positiv auswirkt.

Ich bin gesünder und habe viel mehr Geld. Gegen Ende meines Trinkens habe ich für Alkohol und Zigaretten 450€ im Monat ausgegeben, diese Summe schockiert mich immer wieder. Ein Mini-Job für die Sucht.

Meine Beziehungen sind besser und authentischer geworden. Es fällt mir leichter, andere mit ihren Schwierigkeiten zu akzeptieren und weniger zu verurteilen. Ich kann mich besser abgrenzen, auch einmal nein sagen oder gar nichts. Die Grenzen der anderen kann ich ehrlicher respektieren. Ich bin wieder verlässlich in meinen Freundschaften und auch in allen anderen Beziehungen. Es fällt mir leichter, Fehler zuzugeben. Durch Wiedergutmachungen haben sich zerbrochene Beziehungen wieder zusammenfügen lassen, und ich bemühe mich ernsthaft, aufmerksam, liebevoll und tolerant zu sein. Ich nehme mir Zeit, um meine Beziehungen zu pflegen und praktische Hilfe zu leisten, wo immer sie gewünscht wird. Das klappt im Alltag nicht immer so gut, manchmal vergesse ich zurückzurufen oder stelle mich sonst irgendwie doof an, bin ungeduldig, wenig sensibel oder kann nur schwer Verständnis aufbringen.

Den Wechsel zum neuen Arbeitsplatz habe ich gut hinbekommen und versuche aus meinen alten Fehlern zu lernen (mehr dazu in dem Post: "Wie geht Verzeihen? Teil 2 - meinem alten Arbeitgeber" Der Link dazu: https://meinlebenohnealkohol.blogspot.com/2022/10/wie-geht-verzeihen-teil-2-meinem-alten.html ). Ich muss nicht mehr so viel Kontrolle ausüben und verzweifelt versuchen, die Fäden in der Hand zu halten oder von meiner Expertise zu überzeugen. Die Menschen, die mit mir arbeiten, merken von selbst, dass ich was leisten kann. Es gelingt mir gut, auf ihre  Kompetenzen zu vertrauen. Es fällt mir auch leichter, die Verantwortung bei den ursprünglichen Besitzerinnen zu belassen und sie nicht an mich zu nehmen. Ich bin weniger leicht zu kränken und weniger abhängig vom Urteil anderer. Mich weniger ernst zu nehmen und über mich zu lachen, kann ich auch besser als früher. Das hilft beim großzügigeren Umgang mit den „Fehlern“ meiner Mitmenschen.

Im Privatleben sehe ich mit großer Freude, wie gut es meiner Familie heute mit mir geht. Ich bin voll da und verfügbar. Vertrauen und Leichtigkeit sind wieder in unser Leben eingekehrt, mein Mann und meine Tochter fühlen sich heute sicher in Bezug auf meine Nüchternheit. Wir haben viel mehr Zeit gemeinsam, weil ich nicht trinke und nicht zum Rauchen raus muss. Unser Familienleben tut uns allen gut, wir fühlen uns wohl miteinander. Meine Tochter erlebt an mir, dass es Auswege aus einer Sucht gibt und es keine Schande ist, wenn man sich Hilfe holt. Mit meinem Bonus-Sohn gibt es eine belastbare Verbindung voller Liebe und Respekt. Unsere Beziehung hat eine neue Tiefe gewonnen. Dadurch, dass ich ihm meine Alkoholabhängigkeit gestand und meine Fehler unumwunden zugab, war es ihm möglich, mit mir über seine eigene, geheimgehaltene Sucht zu sprechen.

Zu meinem nüchternen Lebensstil gehört auch gesunder Stolz, dass ich heute so leben kann: bewusst ohne Alkohol und frei in meinen Entscheidungen. Ich freue mich, dass ich mich nüchtern lieber mag und auch mein nüchternes Leben. Ich kann mir allmählich verzeihen und mich besser annehmen, wie ich bin, für heute klappt das schon ganz gut. Selbst richtig doofe, zu leere oder zu volle Tage oder unruhige Nächte, selbst der blödeste nüchterne Moment oder auch Kummer, Angst und depressive Verstimmungen und sogar tiefe Sorgen könnten niemals leichter werden, indem ich trinken würde. 

Nichts Schlimmes, das nicht noch schlimmer würde durch Alkohol. Nichts Schönes und Gutes, das nicht durch Trinken beschädigt oder zerstört würde.

Ich habe großes Glück gehabt, in meiner Höheren Macht eine Art liebenden life-coach gefunden und bin großartigen Menschen begegnet, die mir professionell oder in der Selbsthilfegruppe halfen, auf meiner Heilungsreise weiterzukommen. Viele von ihnen haben mich an ihren eigenen Genesungsfortschritten teilhaben lassen. Ich durfte viel von ihnen lernen und tue es immer noch. Einige gehören zu meinen engsten Freundinnen. 

Abgeguckt habe ich, wo es nur ging, von anderen nüchternen Frauen, die ihre Sucht öffentlich machten und im Internet talken, Bücher schreiben oder Podcasts betreiben. Auch ihnen danke ich für wertvolle Informationen und unbequeme Horizonterweiterungen, für ihren Mut, ihren Stolz und ihre Ehrlichkeit. Ich hoffe, sie bleiben weiter aktiv und ich kann weiter von ihnen lernen.

1000 Tage hört sich echt viel an und es ist viel passiert in der Zeit, nicht nur Angenehmes aber ausschließlich Gutes für mich. Auch wenn es zunächst keine freiwillige Entscheidung war, bin ich heute sicher, es war die beste meines Lebens.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

 PS: Eine kleine Auswahl an Büchern und Podcasts, die mir die Augen geöffnet haben und auch heute noch sehr hilfreich und anregend sind:

 Melody Beattie:   "Kraft zum Loslassen - Tägliche Meditationen für die innere Heilung“

 Catherine Gray:    „Sternhagelnüchtern – Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu bleiben“

 Clare Pooley:         Vortrag in Englisch, es geht darum, die Sucht aus der Ecke der Heimlichkeit zu holen und Nüchternheit weniger schambehaftet zu sehen, neue wissenschaftliche Informationen knapp erklärt:

https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=NKfuGMzmfTs%5Cr%5Cn%5Cr%5Cn&feature=youtu.be

 „Chianti zum Frühstück“ (dämlicher deutscher Titel), es ist ihr Tagebuch, das ihren Einstieg ins nüchterne Leben und ihr erstes Jahr beschreibt, in dem sie auch noch die Diagnose Brustkrebs bekommt

 Nathalie Stüben:  „Ohne Alkohol: die beste Entscheidung meines Lebens“

Podcast: Ohne Alkohol mit Nathalie (oft mit Gästen, viele Geschichten von Betroffenen, viele wertvolle Tipps), es gibt auch eine gleichnamige Webseite

 Weitere Podcasts: "Sodaklub" mit Mia und Mika (geistreich und informativ, witzig und lockerleicht trotz schwerer Themen)

                                    "Vlada Mättig - Podcast" (sehr anregend, es geht um ein gutes nüchternes Leben, um neue Leichtigkeit, Selbstfindung und wie das praktisch funktioniert)

 

Kommentare

  1. Ich bin immer wieder sehr berührt von der Ehrlichkeit, dem Tiefgang, der Freude und Hoffnung, die mir in Deinen Worten begegnen und danke von Herzen, dass wir an Deinem Lebensweg teilhaben dürfen. Sina

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