Kranksein - mein Schönstes als Kind
Wenn ich ausreichend krank war, um zuhause bleiben zu dürfen, aber nicht so krank, dass ich gelitten habe. Das war mein Kinderparadies: Keine Schule, mich gemütlich einkuscheln, fast unbegrenzt lesen dürfen und als Krönung mit Zuwendung und feinen Krankenspeisen versorgt werden. Das war immer ein kleines Glas (Orangen waren teuer!) frisch gepresster Saft wegen der Vitamine, ein Grießbrei, weil der besser rutscht, manchmal auch Eis, weil das den Hals kühlt und eine selbstgemachte Fleischbrühe mit Nudeln, weil das kranke Kind Kraft braucht.
Der Eingang ins Paradies war eine gründliche Prüfung durch zwei kritische Instanzen. Zuerst befragte mich meine Mutter. Ausgestattet mit einem bewährten Grundvorrat an Misstrauen, wollte sie ausschließen, dass keine anderen Gründe für die Beschwerden vorlagen wie Müdigkeit oder gar Schulunlust. Mit diesem vorläufigen Ergebnis wurde die zweite Instanz hinzugeholt. Ihr oblag das letzte Wort über die Frage, ob das Kind zuhause bleiben und gepflegt werden muss. Da meine Mutter arbeitete, fiel diese Aufgabe meiner Großmutter zu. Sie setzte weniger auf Befragung, sondern mehr auf harte Fakten, die sie ermittelte, durch Abtasten des Bauches, Haut anschauen, ob ein Ausschlag zu sehen ist, Zunge und Hals inspizieren, husten lassen und besonders wichtig: Fieber messen.
Bei offensichtlichen Kinderkrankheiten wurde die Untersuchung abgekürzt. Es waren noch zwei weitere potenzielle Patienten da, meine beiden Brüder, und dann mussten wir zum Arzt. Ich erinnere mich an kollektiven Keuchhusten, Masern, Röteln und Windpocken. Das war das andere, das schlimme Kranksein, sicher auch aus der Sicht der Mutter und beiden Großmütter, die eine Menge Arbeit mit drei kranken Kindern hatten. Ein pflegender Vater kommt in meiner Geschichte nicht vor.
Kopfläuse zu haben, war so etwas dazwischen: Meine Brüder bekamen ihre Haare fast gänzlich abgeschoren. Meine langen Mädchenhaare wurden verschont. Stattdessen wurden die Läuse und ihre Nissen akribisch gesucht, herausgekämmt und mit übelriechenden Shampoos getötet, die vermutlich auch zum Entfernen von Straßenbelag nützlich gewesen wären. Abgesehen von diesen Prozeduren bedeuteten Läuse eine Zeit zuhause, zum Spielen, Toben und Streiten und die Erwachsenen in den Wahnsinn zu treiben.
Der beste Anlass für das schöne Kranksein war eine Erkältung mit Fieber. Bei Erkältungen ohne Fieber wurde ich umstandslos in die Schule geschickt. Mit Fieber durfte ich zuhause bleiben. Nun galt es die ersten beiden Tage zu überstehen und die gewissenhafte Behandlung mit Wadenwickeln und Kamillendampf. In unserem Haushalt wurden Hausmittel hochgehalten. War das vorbei, begann das Paradies: Die Brüder in der Schule und ich zwar noch krank, aber umsorgt wie eine Prinzessin und abgetaucht in meine Bücherwelten.
Meine Großmütter und meine Mutter sind schon viele Jahre verstorben. Doch ihr Erbe ist lebendig. Auch ich habe mein Kind liebevoll umsorgt und mit denselben Krankenspeisen verwöhnt, wenn es krank war. Aber meine Tochter musste nicht krank sein, um sich eine Lieblingsspeise zu wünschen. Und ich habe ihr gesagt, Müdigkeit sei ein guter Grund, um nicht in die Schule zu gehen. Ausnahmsweise brauche es auch gar keinen Grund, sondern nur eine Entscheidung, um zuhause zu bleiben und das zu tun, was einem guttut.
Wenn es um mich geht, fällt mir das schwer. Selbst wenn ich eine Krankschreibung schwarz auf weiß habe, plagt mich mein Gewissen. Hartnäckig fragt es nach, ob es auch wirklich in Ordnung sei, zu fehlen. Vor allem wenn es in Richtung schönes Kranksein geht. Schlimmes Kranksein braucht keine Gewissensprüfung.
Als Kind habe ich gelernt, auf meine Weise dafür zu sorgen, dass ich bekam, was ich wollte. Heimlich und mit schlechtem Gewissen habe ich von meinem Taschengeld Süßigkeiten gekauft. Wenn die leeren, silbrigen Papierchen unter meinem Bett gefunden wurden, gab es Ärger, und ich stand beschämt davor. Schon damals waren Süßigkeiten nicht nur Leckereien, sondern ein Mittel zur Beruhigung, Ablenkung, Belohnung und Betäubung. Später übernahm das der Alkohol.
Meine Bedürfnisse wahrzunehmen und sie zu auf gesunde Art und Weise zu befriedigen, mich liebevoll zu behandeln und dafür keinen objektiven Grund zu brauchen, wie eine Krankheit, das habe ich spät in meinem Leben angefangen zu lernen. Doch ich werde immer besser darin.
Ich blicke heute liebevoll zurück und danke meiner Mutter, meinen Großmüttern und meiner Urgroßmutter für ihre Liebe und Pflege und die Erfahrung, dass es schönes Kranksein gibt. Jetzt mache ich mir eine große Tasse Tee, lege einen leckeren Keks dazu, schlüpfe zurück ins Bett und schlage mein Buch auf.
Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du
wiederkommst.
Alles Liebe und Gute
Juna
PS: Ein bisschen Kranksein ist manchmal ganz gesund.
Rudolf Virchow
Kommentare
Kommentar veröffentlichen