Die Qualwahl - eine Freundin wählt, was für mich unwählbar ist

Verspult, verwirrt, verheddert, so fühle ich mich. Ein Mensch, den ich mag, dessen Weisheit und Güte ich schätze, ein Mensch mit mir im 12-Schritte-Programm, eine Reisegefährtin auf dem Genesungsweg trifft eine Entscheidung, die mich schockiert, mitten ins Herz trifft, verwirrt und in Ratlosigkeit zurücklässt.

Meine erste Reaktion war, wir nehmen uns Zeit und lassen uns gegenseitig teilhaben, wie unsere Sichtweisen zustandekamen, die sich im größten denkbaren Widerspruch gegenüberstehen. Dann haben mich meine Gefühle eingeholt, ich musste anfangen, den Schock, die Niedergeschlagenheit und den Ärger zu verdauen. Ich bin in diesen Wochen ohnehin erschöpft und deprimiert. Selbst leichtere Alltagslasten bekommen eine Schwere, die sie nicht von Natur aus haben. Gerade jetzt fehlen mir Seelenruhe und Energie. Meinem Anspruch, einen Dialog zu führen, der ohne Bewertungen auskommt und in den weder Besserwisserei noch selbstgerechte Empörung einfließen, dem kann ich nicht genügen. Das schaffe ich nicht.

Ich kenne die Freundin aus unserem gemeinsamen Lieblingsmeeting. Ich habe sie gefragt, ob sie mein 10. Schritt-Buddy sein möchte und mich sehr gefreut, dass sie ja sagte. Seit einigen Wochen schreiben wir täglich einen 10. Schritt und teilen ihn. Wir lassen uns gegenseitig teilhaben, begleiten uns und manchmal geben wir ein Feedback. Bei mir führt das zu einer inneren Verpflichtung, diese tägliche Aufgabe gewissenhaft zu erfüllen, und es macht einen Unterschied in meinem Leben. Ich mag diese Zusammenarbeit sehr. Daran hat meine liebe Freundin einen wesentlichen Anteil, denn auch sie schreibt und teilt jeden Tag, ehrlich, klug, mit Humor und unermüdlich. Auf diese Weise unterstützt sie meine Genesung.

Also entwerfe ich einen Brief, in dem ich ihr vorschlage, wir könnten der Weisheit unseres 12-Schritte-Programms folgen und Politik aus unserer gemeinsamen Genesungsarbeit ausschließen. Dann kommen mir Zweifel, ob ich dazu in der Lage bin, zu wichtig sind die Themen, zu groß die Angst und zu sehr wirkt die Politik in mein Leben hinein. Ich schreibe weiter, ich sei schon immer ein politisch denkender Mensch gewesen, doch nie so betroffen wie jetzt gerade und voller Sorge über die möglichen Auswirkungen dieser Wahl auf die ganze Welt. Und ich komme zu dem Schluss, ich kann meinen 10. Schritt nicht weiterhin mit ihr teilen und beende tief bekümmert die Zusammenarbeit. Damit habe ich mich in die nächste Schleife des Bandsalats begeben, denn es fühlt sich nicht richtig an: Sie ist immer noch derselbe wunderbare Mensch wie einen Tag vor der Wahl und hat jedes Recht der Welt auf ihre eigene Sichtweise. Sie muss sich nicht erklären oder gar rechtfertigen.

Auf der Suche nach Weisheit und Güte von außen, befrage ich zwei enge Freundinnen aus dem 12-Schritte-Programm dazu. Beide sind selbst von ähnlichen Problemen betroffen und leiden an der Spaltung ihres Landes, die sich sogar durch die eigene Familie zieht. Eine rät mir, den Brief abzuschicken, er würde ehrlich und ohne Schuldzuweisungen meine Bedenken darstellen. Die andere empfiehlt mir, zu beten, wenn ich mich trotz sorgfältiger Wortwahl mit meinem Brief nicht gutfühlte. Und sie gibt zu bedenken, dass ich mit dem Abschicken keine Kontrolle mehr hätte und nicht wissen könne, wie die Empfängerin reagieren würde.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich meine Worte genau abwäge, einen Brief immer wieder neu formuliere, mir Rat hole, eine Nacht darüber schlafe und dann zu der klugen Entscheidung komme, ihn nicht abzuschicken: Kontrolle über Zunge und Feder nannte das Bill Wilson.

Wie würde meine Höhere Macht, die für mich eine Macht der Liebe ist, dieses Dilemma betrachten? 

Eine Macht der Liebe würde diese Beziehung nicht beenden. Wenn der Kontakt abreißt, endet das Gespräch und damit könnte ich nicht herausfinden, was die Gründe sind, welche Hoffnungen sich mit dieser Wahl verbinden. Vielleicht würde ich die Gründe nicht nachvollziehen können und damit stellen sich noch viel mehr Fragen: Bin ich nur bereit, anzunehmen, was in mein Weltbild passt?  Kann ich nur dann akzeptieren, wenn alle Fragen zu meiner Zufriedenheit geklärt werden? Oder kann ich aushalten, dass jemand, der mir am Herzen liegt und mit dem ich viel gemeinsam habe, eine so konträre Auffassung vertritt? Möchte ich Recht haben oder meine liebe Freundin behalten? Wie würde ein Freundschaftsende zu meinen Werten passen? Bete ich nicht jeden Tag darum, fähig zu sein, Liebe in die Welt zu bringen? Wenn ich dieses Lernfeld verlasse, vermeide ich eine Auseinandersetzung und finde vielleicht kurzfristig Erleichterung. Aber ich verpasse damit eine Gelegenheit, mich in Toleranz zu üben, ohne die wir nicht zusammen leben könnten, ohne die kein Konflikt gelöst werden kann. Dieselbe Toleranz, die ich umgekehrt energisch einfordern würde. Auch ich möchte mit allen meinen Facetten wahrgenommen und nicht auf eine Wahlentscheidung reduziert werden.
Eine sehr kluge Freundin sagte mir, bei Toleranz gehe es darum, aus dem "aber" ein "und" zu machen: Jemand ist ein kluger und gütiger Mensch und wählt, was für mich unwählbar ist.

Ich hoffe, ich darf meinen 10. Schritt-Buddy behalten und probieren, die Politik außen vor zu lassen und mich wieder auf unsere Gemeinsamkeiten besinnen und gegenseitig unsere Genesung zu unterstützen. Ich möchte verbunden und im Gespräch bleiben und wenn es irgendwann eins über Politik sein sollte, dann finden wir hoffentlich eine respektvolle und kluge Art, es zu führen.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna


PS: „Toleranz und Freundschaft ist oft alles, und bei weitem das Wichtigste, was wir einander geben können.“ 

Novalis


Kommentare

  1. Danke dir. Wieder sehr lesenswert 🫶🏻
    Heike

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  2. Liebe Juna, das ist ein sehr interessanter Beitrag. Nicht nur politische Ansichten können sehr verstörend wirken, mir ist es auch während Corona so gegangen. Menschen, die ich schätzte und mit denen ich in vielen Dingen übereinstimmte, waren plötzlich anderer, meiner Meinung nach nicht vertretbarer Ansicht. Ich habe dabei gelernt, dass wir uns nicht gegenseitig mit Argumenten überzeugen konnten und dass wir das aushalten mussten, ohne uns gegenseitig abzuwerten. Aber es ging die Illusion verloren, dass wir uns vollständig verstehen und dadurch entstand Distanz. Vielleicht ist das einfach realistisch und ich muss akzeptieren, dass es immer Unterschiede zwischen Menschen geben wird. Leicht fällt mir das nicht, weil ich Zweifel entwickelte. Toleranz ist nicht so einfach und ich weiß, dass ich bei der anstehenden Wahl wieder auf eine harte Probe gestellt werde. Austausch von Argumenten ist das eine, aber was ich gar nicht vertrage ist, wenn ich das Gefühl habe, dass man mich missionieren will. Ich gehe davon aus, mein Gegenüber will das auch nicht, deshalb beende ich solche Gespräche damit: "Ich glaube nicht, dass wir uns gegenseitig überzeugen können. Lass uns das Thema wechseln."
    Vielen Dank fürs Teilen. Liebe Grüße Birgit

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    1. Vielen Dank liebe Birgit, ja mit Coronaansichten wie Einstellungen zum Impfen oder Maskentragen ging auch durch unsere Gesellschaft ein Riss. Eine sehr zutreffende Parallele. Unsere Differenzen zu akzeptieren, um weiter miteinander umgehen zu können, darum geht es dabei. Auch ich erlebe gewisse Distanzen, die dabei entstehen und in Freundschaften kann sich das schmerzhaft anfühlen. Danke für Deine Gedanken und Erfahrungen!

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  3. Liebe Juna,
    vielen Dank für diesen zum Denken anregenden Text. Am Tag nach der Wahl versuchte mich ein Bekannter über das Ergebnis in ein Gespräch zu verwickeln. Ich sagte lediglich, dass unsere Menschheit auch diese "Katastrophe", wie früher die Pest oder Ähnliches überstehen wird. Auch ich war geschockt und voll Unverständnis, jedoch habe ich keine Angst und bin voll Zuversicht.
    Liebe Grüße hage-dorni

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    1. Liebe hage-dorni, es tut gut, das zu lesen und ich weiß, du bist fest davon überzeugt, danke für deine positive Einstellung. Liebe Grüße Juna

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