Der 7. Schritt - wer repariert mich denn jetzt?


Da ich kein Pannenfahrzeug im Vereinigten Königreich bin, kann ich nicht in einer Wartezone am Straßenrand liegen bleiben und gemütlich auf ein Mechanikerteam warten. Schade eigentlich!
 
Meine eigenen Pannen und deren Ursachen habe ich in den Schritten 4 und 5 gründlich erforscht, habe Lösungsansätze aufgeschrieben und das alles ehrlich und rückhaltlos mit meiner Sponsorin geteilt. 
Im 6. Schritt habe ich meine Bereitschaft für einen tiefgreifenden Wandel gespürt und ausgesprochen. Mir ist klar geworden, dass meine Unzulänglichkeiten nicht einfach verschwinden, nur weil ich bereit bin, sie loszulassen. Und was heißt das überhaupt, das vielzitierte Loslassen? Ich fürchte, das habe ich nie verstanden. Mir ist es jedenfalls nicht gelungen, mich von unerwünschten Gefühlen, verdrehtem Denken und schädlichen Verhaltensweisen zu befreien. Wenn ich das könnte, hätte ich meine Essstörung schon längst beseitigt.
 
Im 7. Schritt bitten wir demütig darum, dass Gott unsere Unzulänglichkeiten von uns nimmt. In meinem aktuellen 12-Schritte-Programm in EDA (Eating Disorders Anonymous) wird zu "Gott" erklärt: Das kann ein Gott sein, eine Gottheit, eine Höhere Macht nach eigenem Verständnis oder ein nicht spirituelles Konzept, ein Höherer Zweck.

Ich kann mich nicht selbst reparieren. Das weiß ich, weil ich es mein Leben lang erfolglos versucht habe.
 
Abnehmen, sportlich werden, nein sagen lernen, schlagfertig sein, ein Vermögen aufbauen, die Sprachen der Liebe verstehen, Männer verstehen, ganz groß rauskommen, maßvoll genießen, umwerfend schön sein.... das ist eine kleine Liste der Bereiche, in denen ich dringenden Reparaturbedarf bei mir gesehen habe und durchaus ernste Anstrengungen unternahm, um meine Ziele zu erreichen.
Das hat zwar nicht so recht geklappt, aber ich war eine Stütze und habe der einen oder anderen Ratgeberautorin ihr Auskommen gesichert, der Diätindustrie die Geldsäcke gefüllt, Sportartikelhersteller vor der Insolvenz bewahrt und der Selbsterfahrungs- und Therapiewelt ihre Daseinsberechtigung bestätigt.
 
Als ich 40 wurde, habe ich mich einer Operation unterzogen und in den folgenden beiden Jahren mein Gewicht halbiert. Nachdem ich nicht mehr essen konnte, fing ich an zu trinken. Alkohol ist überall und jederzeit verfügbar und leicht zu schlucken.
 
Als ich 55 wurde, kam ich gerade frisch nüchtern aus der Suchtklinik. Mein letztes großes Reparaturprojekt, mich mit Trinkpausen und anderen Einschränkungsregeln wieder zur problemfreien Trinkerin zurückzuentwickeln, war elend gescheitert.  Danach sorgte AA mit den besten aller Kräfte dafür, dass ich heute ein gutes Leben ohne Alkohol führe.
 
"Wir müssen uns nicht reparieren; das klappt sowieso nicht!" heißt es im Bigbook von EDA. Ja, wer macht es denn dann?
 
Wie ich es verstehe, geht es um eine ziemlich geniale Arbeitsteilung: Ich mache meinen Teil und die Hingabe an eine gute Sache, die Höhere Macht oder Gott, wie wir Gott verstehen, übernimmt alles andere.

EDA rät dringend, jeden Tag ein paar Minuten für einen 10. Schritt aufzuwenden, eine kurze Selbstreflexion mit konkreten Zielen. Wir schreiben auf, was an dem Tag gut oder schlecht lief, ob wir einen Fehler gemacht haben, ob es Gefühle gab, die wir anschauen sollten. Wir erwähnen unsere Erfolge, auch die kleinen, wir schreiben auf, wofür wir dankbar sind und was uns gutgetan hat. Und wir gleichen ab, ob unsere Pläne für den nächsten Tag zu unseren Werten passen und was wir tun wollen, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Am Schluss planen wir noch einen kleinen Dienst oder nehmen uns ein Motto vor zum Beispiel: "Halte es einfach!"
 
Ich teile meinen täglichen 10. Schritt mit zwei Freundinnen, und die Wirkung ist erstaunlich: Das Versprechen bindet, und ich drücke mich nicht. Wir teilen Einblicke in unsere Leben, wir fühlen mit und bekommen Anregungen, wir erleben mit, wie die anderen zu Lösungen kommen und bei mir wirkt es auch manchmal vorbeugend: Wenn ich jetzt diesen Blödsinn mache, dann muss ich den heute Abend in meinen 10. Schritt schreiben.
 
Noch mehr Beschäftigung mit dem eigenen Selbst ist nicht nur unnötig, sondern auch ungünstig. Es wäre nur eine andere Form der Selbstzentriertheit. Die restliche Zeit des Tages und die Kraft investieren wir darin, ein Denken und Handeln zu praktizieren, das nützlich ist. Zuerst für andere und dann auch für uns selbst. 
 
In AA habe ich gelernt, dass es für mich selbst heilsam ist, wenn ich für andere hilfreich bin. Auch das hat EDA von AA übernommen: Wir nutzen unsere Erfahrungen, auch die leidvollen, um anderen zu helfen. Wir teilen unsere Geschichten, und wir machen Dienste im Meeting und lernen, uns nicht über jede Äußerung aufzuregen, die uns nicht in den Kram passt. Wir sind für Neuankömmlinge da, und wir helfen ihnen geduldig, ihren Weg durch die Schritte zu gehen. 
 
Auch außerhalb unserer Gemeinschaft üben wir uns darin, ein Leben zu führen, in dem wir nicht pausenlos um uns selbst kreisen, sondern ein Leben, in dem wir Gutes tun, gütig und liebevoll handeln oder uns einer guten Sache verschreiben, die über uns hinausweist. 
Als Egobremse ist hier die Demut eingebaut: Kleine gütige Alltagshandlungen zu tun, für die wir nicht anerkannt oder belohnt werden, die uns nicht einmal zugeordnet werden, sind eine gute Übung. Darin bin ich noch so ein Grünschnabel, dass es mir nicht jeden Tag gelingt, eine kleine gütige Handlung auszuführen und dabei unbemerkt zu bleiben.
 
In meiner Hand liegt es auch, meine alten Muster durch neue, bedeutungsvolle Aktionen zu ersetzen: Wenn ich bemerke, wie ich gerade unterwegs bin, kann ich anders handeln. Bei mir ist die Aufschieberitis besser geworden, als ich daran gedacht habe, mir die richtigen Fragen zu stellen: Warum nicht jetzt?
 
Ich habe auch eine kleine Angstepisode gut in den Griff bekommen, indem ich nicht meinem ersten Impuls folgte, eine Freundin anzurufen, sondern mich stattdessen an eine nützliche Frage erinnerte: Wie würde ich jetzt in diesem Moment handeln, wenn ich keine Angst hätte? 

Es gibt damit Fortschritte für mich auf meiner Seite der Arbeitsteilung.

Auf der anderen Seite ist meine Höhere Macht, auf ihre Kraft, Liebe und Geduld kann ich mich verlassen, dieses Geschenk wurde mir in meiner Genesung vom Trinken zuteil. Wann immer ich mich mit ihr verbunden fühle, fällt mir alles leichter. Mein Vertrauen wächst in alle Richtungen: in meine Mitmenschen, in mich und ins Leben selbst. Wenn ich mich verbunden fühle, funktioniert mein Gedächtnis anscheinend besser, jedenfalls fallen mir dann die richtigen Fragen ein. Wenn ich mich verbunden fühle, kann ich besser akzeptieren und verzeihen.
 
Ich habe mir ein Gebet zum 7. Schritt so umgeschrieben, dass es für mich passt:
 
Meine liebe Howard,
danke für diesen Moment.
Hier bin ich, mit allen meinen Seiten: guten und weniger guten. Deine Liebe und deine Kraft werden mich von meinen Unzulänglichkeiten befreien, die mich daran hindern, Liebe in die Welt zu bringen.
Ich verspreche Dir jeden Tag aufs Neue, gütig und selbstlos zu handeln. Dieses Versprechen wird meine Stärke sein.
Danke für Deine Kraft, Liebe und Geduld!
Amen
 
Wer zu Religion und Spiritualität keinen Zugang hat, kann sich ein alternatives Statement aufschreiben. Ein Beispiel ist hier:
 
Ich gebe zu, dass ich in der Vergangenheit manchmal etwas zu sehr an mich selbst gedacht habe. Dadurch habe ich leider den freudigen Dienst für das Allgemeinwohl vernachlässigt. Ich möchte mich von meinen Sorgen über meine Unzulänglichkeiten verabschieden und mich stattdessen darauf konzentrieren, effektiv und gut zu dienen. Wenn ich mich mehr auf meinen Dienst als auf meine Probleme konzentriere, werden meine Unzulänglichkeiten weniger. Darauf vertraue ich. Und ich bin zuversichtlich, dass meine Authentizität und Integrität als Mensch dadurch stärker werden. Meine Hingabe und meine Fähigkeiten, Gutes zu tun, werden wachsen.
 
Ich kann mich nicht selbst reparieren.
 
Ich weiß nicht, ob ich irgendwann von mir sagen werde, ich sei vollständig genesen. Wenn es um Essstörungen geht, kann ich nicht die Substanz weglassen.
Es würde mir gefallen, wenn sich die Genesung unbemerkt in mein Leben schliche. Eines schönen Tages würde ich sie mit derselben Überraschung entdecken  wie die Postkarte einer Freundin, die sie mir ins Bücherregal gestellt hatte und die ich lange Zeit übersah.

Bis dahin aber lebe ich. Und ich umarme und liebe dieses Leben. Heute und an jedem einzelnen Tag, unrepariert wie ich bin und mit großer Freude daran, kleine, gütige Dinge zu tun.
 

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

 

PS: "Don’t work on defects, work on building character"

Nicht an den Mängeln arbeiten, sondern Charakter bilden

EDA

 

Kommentare

  1. Liebe Juna danke fürs teilen. Ein schöner Einblick in die EDA-Welt. "Dass man sich nicht von selbst reparieren kann und auch nicht braucht" , diese Worte merke ich mir. Danke 🙏 D.

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    1. Liebe D. vielen Dank, ich habe mit den Reparaturversuchen ziemlich viel Zeit in meinem Leben zugebracht. Ich finde es auch nicht immer einfach, den Punkt zu erkennen, an dem es nur eine andere Art des um sich selbst Kreisens ist. Grundsätzlich ist es ja gut, wenn wir an uns arbeiten. Durch AA habe ich meine Höhere Macht gefunden und jetzt kann ich immer wieder auf sie zurückkommen, ihr vertrauen, ihr überlassen. Freut mich sehr, dass der Satz aus dem EDA Bigbook nützlich für Dich ist. Liebe Grüße Juna

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  2. Oh Juna, this is beautiful! I'm glad to know more of your story and I especially love both of 7th step prayers you've included. Thank you for sharing with me, my friend🩷 Sue

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  3. Thank you so much, dear friend. For me it is helpful to rewrite prayers until they reach my heart.One of my best teachers once said that poems have good healing skin. I think that also applies to prayers. Best wishes to you

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  4. I love this post, Juna! Such good wisdom about yourself and so much generosity sharing it with us, your readers AND you have a wonderful sense of humor, which is the best way to do recovery work, in my opinion! xo

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    1. Thank you Nan! That makes my happy and I'm grateful for the translation function that enables you and other American friends to read this blog. As you know I admire Nora Ephron: 'When you slip on a banana peel, people laugh at you. But when you tell people you slipped on a banana peel, it's your laugh.' With love

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  5. Exactly! It's always preferable to laugh at myself before anyone else laughs at me!

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  6. Liebe Juna, wieder ein großes Danke, ich habe mir etwas Zeit gelassen, bis ich genug Muße hatte, alles in Ruhe zu lesen. Deine Themen sind immer auch "meine" und Deine Worte unterstützend wie Schwimmflügele. Paddeln tu ich dann selber. Lieben Dank und herzliche Grüße Bettina

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    1. Liebe Bettina, das Bild von den Schwimmflügelchen gefällt mir sehr. Weiter gutes Paddeln! Liebe Grüße

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  7. Jetzt habe ich deinen Text gelesen und er war wieder Anregung zum Nachdenken und Anlass zum Schmunzeln. Vieles habe ich wiedererkannt, z. B. meinen Wunsch, mich zu optimieren.
    Die Frage, ob ich mich jemals als vollständig genesen bezeichnen kann, stelle ich mir nicht mehr. Für mich ist es sinnvoller, meine Krankheit zu akzeptieren. Ich bin Alkoholikerin, so lange ich lebe, aber ich durfte bei AA lernen, damit gut umzugehen. Dazu gehört für mich auch, meine Mängel zu akzeptieren und mich möglichst nicht zu vergleichen mit was auch immer. Ich versuche zu akzeptieren, dass ich netter Durchschnitt bin und damit sehr zufrieden sein darf. Mit zunehmendem Alter geht das immer besser (wobei das nicht immer leicht fällt, z.B. wenn im Seniorenturnen noch Ältere fitter sind als ich). Das Prinzip Dankbarkeit hilft enorm und ich bin sehr dankbar für meine Trockenheit und mein dadurch gutes Leben.
    Was du über kleine gütige Alltagshandlungen schreibst, gefällt mir sehr, das finde ich sehr sinnvollund übernehme ich gerne. Vielen Dank, dass du mit deinen Weg mir teilst.
    Liebe Grüße Birgit

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    1. Liebe Birgit, vielen Dank für Deine Erfahrung und Anregungen. "Netter Durchschnitt" so wie Du das schreibst, hört es sich freundlich und vernünftig an, darüber will ich gerne mal nachdenken. Liebe Grüße

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