Tag 858 – seit zwei Jahren und 128 Tagen bin ich ohne Alkohol. Ich habe aufgehört zu trinken und wieder angefangen zu leben.





Kuss, Piepsi und Twowayprayer - so beginnt mein Tag heute:

Mein Mann liegt neben mir und begrüßt mich. Mein Jeden-Morgen-Wunder, denn Weitertrinken hätte irgendwann meine Ehe zerstört. 

Piepsi wohnt auf der anderen Seite des Bettes, weil ich mich konsequent um meinen Körper kümmere. Mein Disziplin-Wunder, selten habe ich etwas Gesundes Tag für Tag durchgezogen.

Das Twowayprayer ist meine Art, mich mit dem Universum, meiner Höheren Macht, meiner Idee von Gott zu verbinden und mich auf den neuen Tag auszurichten. Mein Kraft-Wunder, unerwartet und wirksam.

Piepsi, diesen albernen aber sprechenden Namen habe ich einem kleinen Gerät gegeben. An dessen Kabelende sitzt ein weiches Mundstück. Das stülpe ich zuerst über die obere Zahnreihe und dann über die untere. Es wird warm und soll meine Zähne dazu bewegen, sich schneller zu bewegen und meine kieferorthopädische Behandlung beschleunigen. 6 Minuten oben und 6 Minuten unten morgens und abends mit Piepsi, der das Ende einer Arbeitseinheit mit lautem, rhythmisch unterbrochenem Piepsen verkündet. Meine Fortschritte messe ich daran, wie gut es mir gelingt, den Speichelfluss einzudämmen. Nebenbei dehne ich meine Beinmuskeln und lese einen Tagestext. Dann stehe ich auf und starte den Tag mit meinem Twowayprayer. Jeden Morgen nehme ich Verbindung auf zu meiner Quelle von Kraft, Liebe und Geduld. 

Ich bin 57 Jahre alt und eine lebende Baustelle mit verschobenem Becken, verdrehten Beinachsen, falsch abrollenden Füßen, die ich auch mal umknicke und breche, Arthrosen an einigen Gelenken, mit verklebten Faszien und geschwächtem Bindegewebe. Dank Fehlbiss bin ich seit kurzem auch mit schicken, durchsichtigen Zahnschienen und eben Piepsi ausgestattet. Die Zahnschienen wirken verjüngend, denn ich teile das Schicksal von 13-Jährigen und beim Fachsimpeln verstehen wir uns prächtig.

Zu meinen besten Freundinnen zählt meine Physiotherapeutin, die ich öfter sehe als alle meine anderen Freundinnen. Sie weiß viele intime Einzelheiten über mich. Nur eine Sache nicht, über die ich eisern schweige. Manchmal erzähle ich von Depressionen und dass ich in einer Klinik war. Aber nur ganz wenige Menschen kennen den wahren Grund. Depressionen sind heute gesellschaftsfähig, Alkoholismus ist es nicht.

Kopfschmerz, Kater, Scham, Schuld und Angst begleiteten sonst meine Morgen, als ich noch getrunken habe. Der erste klare Gedanke war oft der Vorsatz, heute nichts zu trinken. Bis ich von der Arbeit nach Hause kam, hatte die Sucht meinen Willen gelöscht und noch im Mantel stand ich am Kühlschrank und trank den ersten, befreienden Schluck aus der Weißweinflasche. Wenn die Familie im Haus war, ging ich zum Trinken in den Keller. Weitere Portionen trank ich zur Tarnung aus Kaffeebechern.

Lange Zeit wusste ich schon, dass ich ein Problem mit dem Trinken habe. Sichere Anzeichen waren die Tests im Internet, die  ich gemacht und bestanden hatte. Lange Zeit habe ich versucht, es zu kontrollieren. Lange Zeit hatte Scham mich gelähmt, mir Hilfe zu holen und lange Zeit hatte ich Angst, das Problem offiziell zu machen, weil ich mir ein Leben ohne Alkohol nicht vorstellen konnte. Wenn ich es sage, dann muss ich aufhören: Wenn der Elefant im Raum mit seinem Namen angesprochen wird, muss er gehen. Und es hat lange gedauert, bis ich bereit war, ihn zu verabschieden.

Meine Tochter ist mein größtes Geschenk, spät in meinem Leben kam sie zu mir. In der ersten Nacht mit ihr an meiner Seite, empfand ich, dass es eine unfassbare Liebe im Universum geben muss, die mir dieses Wesen anvertraut hat. Nun hatte ich die Verantwortung für ein Leben. Meines vorzeitig zu beenden, war ab jetzt ausgeschlossen. Viele Jahre hatte ich heimlich die Idee einer letzten Versicherung gepflegt: mein Freitod als Ausweg, falls ich mein Leben nicht mehr würde ertragen können. Jetzt war meine Tochter da und ich mit ihr verbunden. Für immer. Keine Hintertür mehr offen.

16 Jahre später war sie es, die mich auf meinen Weinkonsum angesprochen hat. Wie viel Mut hat sie dafür wohl gebraucht? Ich bedankte mich, dass sie es gesagt habe, und versprach, mich darum kümmern. Kurz darauf wurde ich nüchtern.

Leider stimmt es nicht. Der letzte Satz ist falsch. In Wahrheit geschah es noch ein zweites Mal, dass sie ihre Sorgen über meine Trinkerei aussprach. Nun konnte ich nicht mehr angemessen reagieren, sondern ich versuchte, sie zu beschwichtigen und als das nicht half, wurde ich wütend. Nur weil ich Wein trinke, fehle es ihr an gar nichts, blaffte ich sie an.

Der schlimmste Moment meines Versagens als Mutter. Mein Tiefpunkt. Nie hätte es so weit kommen dürfen. Jetzt war Schluss.

Leider auch dieses Mal nicht. Es brauchte noch mehrere Monate und weitere schlimme Momente bis ich endlich so weit war, den Ausstieg aus der Sucht anzupacken.

Mein Kind benennt den Elefanten, und ich werfe ihm eine bunte Decke über. Die Scham und Schuld, eine trinkende Mutter zu sein, konnte ich nur ertragen, indem ich weiter trank und mich noch mehr anstrengte, es besser zu vertuschen und meine Verheimlichungsstrategien zu verfeinern. Später in der Suchtklinik erzählte mir ein anderer Patient, er habe seine Weinflaschen nach ihrer Größe ausgesucht: Sie mussten hinter den Büchern im Regal verschwinden können.

858 Morgen ohne die Angst, alles könnte auffliegen, ich könnte daran sterben, meine Arbeit verlieren, meine Ehe und meine Familie zerstören und ohne die quälende Angst, nicht mal mehr, diesen einen Tag zu bestehen.

In den ersten 120 Tagen meiner Nüchternheit habe ich oft schlecht geschlafen, einmal auch geträumt, ich hätte wieder getrunken. Doch die quälende Angst, die mich nachts zu verschlingen drohte, ist mit dem Alkohol verschwunden. Der Elefant war fort, und die Zeit des Ausmistens hatte begonnen.

Heute habe ich überwiegend gesunde Angst, also die nützliche Art, die mich davor bewahrt, mich in ernste Gefahr zu bringen. Manchmal habe ich auch Angst vor der Zukunft der Welt. Kann man leicht bekommen in diesen Zeiten. Vor einem Rückfall hatte ich auch lange Angst, heute spreche ich von Wachsamkeit. Und ich mache mir immer wieder Sorgen um meine Lieben, schlafe besser, wenn das Kind zuhause ist und bin erleichtert, wenn mein Mann wohlbehalten wieder zurück ist.

Beiden geht es wieder gut in Bezug auf mich. Beide machen sich keine Sorgen mehr. Vertrauen und Leichtigkeit sind in unseren Familienalltag zurückgekehrt.

Wie gut mein Leben ohne Alkohol sein würde und was es bedeutet, ein ausgeglichener Mensch zu sein, das wusste ich vor 858 Tagen noch nicht.

Wie ich es herausgefunden habe und was mir geholfen hat, meine Alkoholsucht zu überwinden, davon möchte ich in diesem Blog erzählen.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wieder kommst.

 

Alles Liebe und Gute

Juna

PS: Wenn Du auch mit dem Trinken aufgehört hast: Was hat bei Dir den Ausschlag gegeben?

PPS: Wenn Du mit dem Gedanken spielst, nüchtern zu leben, was fehlt noch, damit Du es versuchst?

Kommentare

  1. Danke, Juna, für Deine Gedanken und Deine Offenheit. Es gehört so viel Mut dazu es auszusprechen.
    Auch ich habe mit dem Trinken aufgehört. Für mich war entscheidend, dass ich nicht mehr jeden Morgen diesen Gedanken im Kopf haben wollte "Heute wird nichts getrunken". Aber der Weg dahin war schwer - und die Umsetzung noch viel schwerer.
    Du hast das in Worte gefasst.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Danke für Deinen Kommentar und ich freue mich mit Dir, dass Du Deinen Weg in ein nüchternes Leben gefunden hast.
      Alles Gute für Dich!

      Löschen
  2. Vielen Dank für deine Offenheit und das Teilen! Isolation ist gefährlich, sagte mir eine liebe Person 😉

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Connection against addiction um noch einen Anglizismus mehr einzubringen ;-), aber der Spruch reimt sich so schön und bringt es auf den Punkt: solange wir verbunden sind mit anderen Menschen, die auch aufgehört haben zu trinken und vielleicht auch immer wieder kämpfen, solange wir Freundinnen und Freunde haben, die im Notfall bereit sind, lauter zu sein als die Sucht, solange haben wir einen guten Schutz, denke ich.
      Danke für Deinen Kommentar und alles Gute für Dich!

      Löschen
  3. Liebe Juna, wie gut du die Gefühle beschreiben kannst...jeder, der trinkt, nicht mehr trinkt oder versucht damit aufzuhören, findet sich darin wieder und wird bestärkt aufzuhören oder weiter trocken zu bleiben.
    Es ist ein echter Kraftakt, der sich allerdings mehr als lohnt.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Es tut so gut, diesen Blog zu lesen. Ich erkenne mich fast 1 zu 1 wieder, nur mit dem Unterschied, dass mein erster Versuch nüchtern zu werden grandios scheiterte und ich wieder da bin, wo ich schon mal war. Du warst schon einmal der Grund , es anzupacken. Dein so toll geschriebener Blog, die wundervolle nüchterne Art alles in Worte zu verpacken, ist sooo schön zu lesen. 😍

      Löschen
    2. Du wirst es schaffen - bleib bitte dran.

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

4 Jahre Nüchternheit und Genesung - und was kommt jetzt?

Wie geht Verzeihen? Teil 3: Meiner Mutter

Feiern im Kloster - Begegnung mit einer unerwarteten Rückfallgefahr

Alkoholikerin - Unwort oder Starthilfe?

Sommerreise durch Südengland Teil 3 - der Ladies Lunch in Haywards Heath

Sommerreise durch Südengland Teil 2 - ein Buchladen und ein Frauenmeeting in Bath

Sommerreise durch Südengland Teil 1 - auf den Spuren von Bill W.

Von den Profis beten lernen - ein ungeplanter Kirchenbesuch

Aus der Werkzeugkiste - Der Liebesbrief

Wie geht Verzeihen? Teil 1: Mir selbst