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Trauriges Echo - Kindheitstrauma und Sucht

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Heute bin ich traurig. Mir geht durch den Kopf, was ich hätte sein können, wer ich hätte werden können und woran es wohl gelegen hat, dass ich es nicht wurde.  Ist das ein Anfall von Selbstmitleid, den ich auf der Stelle mit meinen Werkzeugen aus der Suchtbekämpfung verjagen sollte? Oder ist es gut für mich, wenn ich heute meiner Trauer Raum gebe, mich an die Achtjährige erinnere, die sexuellen Missbrauch erlitten hat und in diesem Alter ihre erste Diät machen musste? Ungern schaue ich mir alte Kinderfotos an, denn es deprimiert mich: Ich sehe meine Geschwister und mich, wir sind noch klein, das ganze Leben liegt vor uns, viele Türen stehen offen. Ich muss daran denken, was alles nicht gut ausgegangen ist.  Ich weiß, was in mir zerbrochen ist und ich kann ahnen, was in ihnen. Bei einem von uns, fürchte ich, ist das Happy End ausgefallen, ich hoffe und bete, nicht endgültig. Gibt es so etwas wie eine normale Kindheit?  Als traumatisch hätte ich meine jedenfalls nicht eingestuft, bis ich

Kaffeekränzchen auf Zoom - wir feiern meinen dritten Nüchternheitsgeburtstag

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  Neulich an einem Sonntagnachmittag habe ich drei Freundinnen zu einem Damenkränzchen der besonderen Art eingeladen: Ich wollte mit ihnen feiern, dass ich seit drei Jahren ohne Alkohol lebe. Es sind drei wunderbare Frauen aus meiner Selbsthilfegruppe, ebenfalls nüchtern lebend, nur leider mit einem klitzekleinen, geographischen Nachteil behaftet: Sie wohnen in entfernten Winkeln der Republik verstreut und können nicht persönlich auf Kaffee und Kuchen bei mir vorbeikommen. Das macht aber nichts, Zoom ist ja schon erfunden und als fleißige Meetingsbesucherinnen und erfahrene Hostfrauen sind wir mit dem Medium vertraut. Neu ist für uns nur der Einsatz der Technik zum Feiern. Drei Freundinnen und mich dazu macht vier: Vier gut sichtbare, schön große Kacheln auf dem Bildschirm, das sollte passen und zwei Stunden Zeit für uns vier, da sollte genug Raum für unseren Austausch sein. Zur Vorbereitung hatte ich meinen drei Damen eine schöne Einladung und einen Kuchen im Glas geschickt, sodass wi

Vorher - Nachher - ein Tag heute und ein Tag bevor ich aufhörte, zu trinken

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  Vorher- Nachher-Vergleiche in Zeitschriften habe ich geliebt: Eine Frau im Alltagslook wurde neu eingekleidet, frisiert und perfekt geschminkt. Immer war das Ergebnis eine große Verbesserung und die Glückliche strahlte unglaublich gut aussehend in die Kamera.  Das einfache Prinzip, aus Vorher-Nachher-Vergleichen Aufmerksamkeit und Motivation zu ziehen, funktioniert auch bei mir: Ich vergleiche einen x-beliebigen Tag aus meiner Trinkzeit mit einem x-beliebigen Tag heute und schaue genau hin, was sich verändert hat. Das gibt mir Kraft und Hoffnung, auch wenn der Blick auf meine Trinkerzeit zunächst wehtut. Ein Sonntag vor drei Jahren: Ich will zeitig aufstehen, um den freien Tag für etwas Schönes zu nutzen, aber ich bin nicht hochgekommen. Ich habe Kopfschmerzen und einen schlimmen Kater. Samstags trinke ich mehr, weil ja Wochenende ist und ich den freien Sonntag vor mir habe. Ich bin nicht nur müde, sondern erschöpft, depressiv, voller Scham und Schuld, wieder viel zu viel getrunken z

Zugehört – jeder Mensch sollte eine Hedwig in seinem Leben haben

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Meiner Freundin Hedwig höre ich einmal in der Woche am Telefon zu und sie mir. Neben dem Austausch von Neuigkeiten in unseren Familien, geht es vor allem um unsere Genesungsfortschritte. Wir sind Reisegefährtinnen und begleiten die Heilungsreise der anderen mit Zuhören, Nachfragen, Anteil nehmen und Dankbarkeitslisten teilen. Wir können zusammen lachen und auch mal traurig sein. Wir sind füreinander da, und sie steht auf meiner kurzen Liste von Menschen, die ich mitten in der Nacht anrufen würde, wenn ich Angst habe oder es mir schlecht geht. Ihr kann ich selbst meine peinlichen Gefühle zeigen, und sie ist gut darin, meine verknoteten Gedanken ordentlich aufzudröseln. Wir kennen uns aus der Selbsthilfegruppe und sind beide dankbar und glücklich über unser Leben ohne Alkohol. Beide beschäftigen wir uns mit Spiritualität. Wir versuchen, unsere täglichen Routinen lebendig zu erhalten. Wir denken nach und wir versuchen die 12 Schritte des Programms in unserem täglichen Leben anzuwenden. Da

Drittes Weihnachten - nüchtern betrachtet

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  Alkohol ist mein geringstes Problem: Weihnachten stresst mich. Nicht weil ich Vorweihnachtsstress mit Geschenkefinden hätte oder einen Marathon an Weihnachtsfeiern bewältigen müsste. Auch nicht weil das Kind als Engel oder Schaf im Krippenspiel mitwirkt. Auch nicht, weil Kinderübergaben in der Patchworkfamilie durchzustehen sind. Die haben wir hinter uns - Gott sei Dank! Nein, ich habe Weihnachtsstress, weil ich meine Erwartungen nicht loslassen kann: E s soll schön sein und festlich mit Deko und gutem Essen. Alle sollen sich wohlfühlen, die Kinder sollen auch Zeit miteinander verbringen und ohne uns. Jedes Familienmitglied soll die perfekte Balance erleben zwischen Zeit für sich selbst aber auch genug Zeit mit der ganzen Familie und für gemeinsame Aktivitäten. Ähnliches gilt auch für die Besuche der weiteren Verwandschaft: Alles schön, alles gut, alle glücklich. Wenn ich das so schreibe, fühlt es sich an, als hätte ich Rollen in einem Edekaweihnachtsfilm verteilt, und ich muss lache

Tausend Tage nüchtern sein - vom Rettungsschirm zum Lebensstil

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Freiwillig habe ich nicht aufgehört zu trinken. Gezwungen hat mich die Angst, ich könnte alles zerstören und verlieren, was mir lieb und teuer ist: Meine Familie, meine Ehe, meine Arbeit, meinen Lebenssinn, meine Lebensfreude und zum Schluss mich selbst. Den Zeitpunkt, mir und meiner Umgebung einzugestehen, dass ich alkoholabhängig geworden bin, habe ich lange hinausgezögert: Wenn ich den Elefant im Raum beim Namen nenne, muss ich aufhören zu trinken. Jahrelang war ich dazu nicht bereit. Ein Leben ohne Wein war für mich nicht denkbar. Ich wollte weiter trinken: gesellschaftsfähig sein und nicht ausgeschlossen, die Wirkung der ersten Gläser genießen, meinem Verlangen nach Wein nachgeben, mich entspannen, mich belohnen, mich ablenken, betäuben und vergessen. Es ging mir abgrundtief schlecht mit dem Trinken, aber ich hatte keine Vorstellung, wie es ohne Alkohol gehen könnte. Mein Weg in die Nüchternheit begann mit einer Reihe von Bekenntnissen: zuerst gegenüber einer unbekannten Psych