Vorher - Nachher - ein Tag heute und ein Tag bevor ich aufhörte, zu trinken

 

Vorher- Nachher-Vergleiche in Zeitschriften habe ich geliebt: Eine Frau im Alltagslook wurde neu eingekleidet, frisiert und perfekt geschminkt. Immer war das Ergebnis eine große Verbesserung und die Glückliche strahlte unglaublich gut aussehend in die Kamera. 

Das einfache Prinzip, aus Vorher-Nachher-Vergleichen Aufmerksamkeit und Motivation zu ziehen, funktioniert auch bei mir: Ich vergleiche einen x-beliebigen Tag aus meiner Trinkzeit mit einem x-beliebigen Tag heute und schaue genau hin, was sich verändert hat. Das gibt mir Kraft und Hoffnung, auch wenn der Blick auf meine Trinkerzeit zunächst wehtut.

Ein Sonntag vor drei Jahren: Ich will zeitig aufstehen, um den freien Tag für etwas Schönes zu nutzen, aber ich bin nicht hochgekommen. Ich habe Kopfschmerzen und einen schlimmen Kater. Samstags trinke ich mehr, weil ja Wochenende ist und ich den freien Sonntag vor mir habe. Ich bin nicht nur müde, sondern erschöpft, depressiv, voller Scham und Schuld, wieder viel zu viel getrunken zu haben. Ich hasse und verachte mich für meine Willensschwäche und erneutes Versagen.

Heute morgen bin ich früh aufgestanden, weil ich um 6.30 Uhr in ein bestimmtes Meeting wollte, um gemeinsam mit anderen Menschen zu meditieren und zu beten. Es hat mir Klarheit gebracht, mich positiv bestärkt und ich bin gut auf meinen Tag ausgerichtet. Ich habe im Meeting eine Freundin getroffen und danach kurz mit ihr telefoniert, ich fühle mich verbunden und bereit. Ich trinke eine Tasse Kaffee mit meinem Mann und wir überlegen gemeinsam, was wir heute unternehmen wollen. Auch ihm geht es gut, wir haben beide gut geschlafen.

Wir machen Frühstück und lesen Zeitung. Wir beschließen, an diesem Abend weniger zu trinken. Ich lege mich danach nochmal hin, weil ich so müde bin. Von den schlimmen Ängsten und Sorgen meines Mannes, weiß ich nichts. Auch ihm geht es schlecht, wieder hat er mit mir getrunken. Es ist seine Art, zu versuchen, meinen Konsum zu kontrollieren, aber das werde ich erst Jahre später erfahren. Wieder hat es nicht funktioniert, das kontrollierte Trinken. Er spricht nicht darüber, mein Trinken ist tabu. Er hat niemanden, dem er sich anvertraut, niemandem, bei dem er seine Angst, seine Sorge und andere belastende Gefühle aussprechen könnte. Keiner weiß, was bei uns los ist, nicht einmal unsere engsten Freunde. Dass ich alkoholabhängig bin, kann ich niemandem sagen, mir selbst nicht, meinem Mann nicht und keiner einzigen Freundin. Wir schweigen und leiden, jeder für sich.

Mein Mann und ich gehen auf die lange Hunderunde, wie immer am Sonntagmorgen. Dabei vertiefen wir uns ins Gespräch. Kein Telefon und keine Unterbrechungen stören uns. Wir wollen wissen, wie es dem anderen genau geht und alles erfahren, was jeden beschäftigt und während der Woche vielleicht zu kurz kam. Wir sprechen viel über die Arbeit, über die Kinder, über Ideen, was wir machen wollen und wir sprechen viel über uns. Den Hund gibt es, seit ich nüchtern geworden bin. Es ist 10.09 Uhr: Ich sitze an meinem Computer und schreibe einen neuen Post für meinen Blog über nüchternes Leben.

Ich war schon als Kind eine begeisterte Schreiberin, wollte Schriftstellerin oder Journalistin werden. Daraus wurde nichts. Später schrieb ich gar nicht mehr. Vor lauter Perfektionismus und einem Chor von destruktiven Stimmen in meinem Kopf, ließ ich es bleiben. Es ist Nachmittag, ich muss die Arbeit für die nächste Woche beginnen. So lange wie möglich schiebe ich es hinaus, aber dann muss ich anfangen. Ich bin voller Sorgen, wie die neue Arbeitswoche wohl sein wird, ich sehe die Fülle an Terminen und habe keine Ahnung, wie ich das schaffen soll. Auch Konferenzen stehen an. Akribisch bereite ich meine Beiträge vor, denn ich hoffe, so kann ich meine Kolleginnen und Kollegen dazu bewegen, meinen Vorschlägen für Veränderungen zu folgen.

Ich habe das große Glück gehabt, dass ich meinen ungeliebten Arbeitsplatz verlassen  und aus den zerrütteten Arbeitsbeziehungen aussteigen konnte. Ich arbeite auch viel weniger als vor drei Jahren, endlich Zeit für einen Hund. Noch während ich in der Suchtklinik war, trafen wir diese Entscheidungen: Jobwechsel, Teilzeit und Suche nach einem Welpen. Für uns alle ist der Hund eine große Freude und wir verbringen möglichst viel Zeit mit ihm. 

Am Nachmittag werden mein Mann und ich weiter die Sachen im Haus machen, die wir gestern begonnen haben, ich freue mich darauf. Meine Arbeitswoche beginnt erst am Montagmorgen, und ich darf den ganzen Sonntag genießen. Ich mache meine Arbeit immer noch gern, aber ich habe gelernt, Grenzen zu ziehen, wenn sie mir zuviel wird. Ich nehme mich nicht mehr so wichtig. Über Anerkennung und Wertschätzung freue ich mich, aber ich jage ihr nicht mehr hinterher. Ich kann gut damit leben, Verantwortung abzugeben, wo ich keine habe: Die meisten Entscheidungen treffen andere und dafür sind sie in der Pflicht. Stattdessen nutze ich meine Spielräume und freue mich über jede Kleinigkeit, die gelingt

Irgendwann höre ich auf zu arbeiten, ich werde sowieso nicht fertig. Spätestens um 18 Uhr kann ich meine brennende Gier nach Alkohol nicht länger unterdrücken. Beim ersten Schluck lüge ich mir noch vor, es werde bei einem Glas bleiben. Hatten wir beim Frühstück ausgemacht. Ich verbinde das Trinken mit dem Kochen, dann fällt es nicht so auf, bilde ich mir ein. Wenn ich mich unbeobachtet fühle, trinke ich schon eine halbe Flasche, bis das Essen fertig ist und danach bei Tisch weiter. Später quäle ich mich zwei oder drei weitere Stunden an meinem Schreibtisch ab. Noch ein Absacker, und der Sonntag ist vorbei.

Heute Abend werde ich meinem Mann diesen Vorher-Nach-Vergleich vorlesen und er wird ihn gründlich selber lesen. Gemeinsam werden wir hinschauen, wie ein Sonntag war, als ich noch trank und er mit mir. Danach werden wir uns schütteln, die schlimmen Erinnerungen verscheuchen und uns ganz fest umarmen. Beide sind wir froh und dankbar und leicht, dass ein Sonntag ohne Alkohol heute ein ganz gewöhnlicher Sonntag ist, und wir freuen uns darauf, das Brot zu essen, das er heute Morgen gebacken hat.

Durch den Vergleich erleben wir diesen Sonntag heute als einen weiteren glücklichen Nachher-Tag: Wir feiern, dass wir uns noch haben und wieder haben. 

 Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

 

PS: Ich glaube herausgefunden zu haben, wofür die Woche gut ist: Nämlich, um sich von den langweiligen Sonntagen zu erholen.

 Mark Twain

 

 

Kommentare

  1. Liebe Juna, vielen Dank fürs Teilen, ich habe deinen Text wieder sehr gerne gelesen und ich freue mich mit dir für den ganz "normalen" Sonntag. Jeder Tag, an dem ich und nicht der Alkohol entscheiden darf, was ich tue, ist ein Geschenk für mich und die Menschen um mich herum. Sich an das Leben in der Abhängigkeit zu erinnern macht dankbar, denn für uns AA ist jeder trockene Tag ist ein Anlass zur Freude, egal, was passiert. Wenn dann noch zusätzlich Erfreuliches geschieht, sind wir total im Plus😊. In diesem Sinne gute 24 Stunden und alles Liebe B.

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  2. Liebe Juna. Danke für diesen schönen Vergleich des Vorher und Nachher.
    Bei den Bildern in Zeitschriften sieht man nicht die Anstrengung, Mühe, Disziplin, Rückschläge und wieder Anlauf nehmen zum Ziel. Es ist gut daran zu denken, was da war, bevor wir den Weg der Genesung vom Alkoholismus gingen.
    Ganz besonders gefällt mir: „ Über Anerkennung und Wertschätzung freue ich mich, aber ich jage ihr nicht mehr hinterher.“ Es ist gut, wenn ich mich immer wieder frage, ob ich meine Energie sinnvoll einsetze.
    Danke für diese Gedankenanstöße. Liebe Grüße hage- dorni

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  3. Liebe Juna,
    es gibt für mich kein größeres Glück, als dass Du diesen Weg gegangen bist und ich der Mann an Deiner Seite sein darf. Die Momente der Rückerinnerungen lassen mich erschauern - aber sie sind Teil unseres gemeinsamen Lebensweges. Und der heutige Teil im "nachher" ist der voller Leben und Glück. Es ist für mich immer wieder wundervoll zu spüren, wie schön und leicht die Tage nun sind. Danke.
    Immer Dein Lebenswegbegleiter

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