Trauriges Echo - Kindheitstrauma und Sucht

Heute bin ich traurig. Mir geht durch den Kopf, was ich hätte sein können, wer ich hätte werden können und woran es wohl gelegen hat, dass ich es nicht wurde. 

Ist das ein Anfall von Selbstmitleid, den ich auf der Stelle mit meinen Werkzeugen aus der Suchtbekämpfung verjagen sollte? Oder ist es gut für mich, wenn ich heute meiner Trauer Raum gebe, mich an die Achtjährige erinnere, die sexuellen Missbrauch erlitten hat und in diesem Alter ihre erste Diät machen musste?

Ungern schaue ich mir alte Kinderfotos an, denn es deprimiert mich: Ich sehe meine Geschwister und mich, wir sind noch klein, das ganze Leben liegt vor uns, viele Türen stehen offen. Ich muss daran denken, was alles nicht gut ausgegangen ist.  Ich weiß, was in mir zerbrochen ist und ich kann ahnen, was in ihnen. Bei einem von uns, fürchte ich, ist das Happy End ausgefallen, ich hoffe und bete, nicht endgültig.

Gibt es so etwas wie eine normale Kindheit? 

Als traumatisch hätte ich meine jedenfalls nicht eingestuft, bis ich aus einem Buch erfuhr, es gibt einen Fragebogen, der die möglichen Folgen belastender Kindheitserfahrungen messbar macht. Je höher die Punktzahl, desto größer das Risiko für lebenslange gesundheitliche Folgen. Dazu gehören Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Schlaganfälle aber auch erhöhtes riskantes gesundheitliches Handeln. Der ursprünglichen Studie aus den Vereinigten Staaten folgten viele in der ganzen Welt. Wer einen Wert von 4 und höher hat und zu denen gehöre ich, lebt mit einem vielfach erhöhten Risiko, körperlich krank zu werden oder eine Sucht oder Depression zu entwickeln: im Falle der Sucht ist das Risiko sieben mal höher. Sieben mal höher: Damit sind traumatische Kindheitserfahrungen die Nummer 1 in der Liste der Faktoren, die eine Sucht begünstigen.

Im Buch wird der Psychotherapeut und Autor Dr. Marc Lewis zitiert, der davon ausgeht, von den Suchtpatient*innen, die er behandelt habe, seien 90% mit schweren Problemen in ihrer Kindheit und Jugend belastet gewesen, aber wahrscheinlich gehe es eher gegen 100%.

Zu meinen negativen Kindheitserfahrungen gehören solche: mich vom Vater nicht geliebt wissen, in meinen Emotionen nicht ernst genommen zu werden, meine Wahrnehmungen bagatellisiert oder verleugnet zu finden, sodass ich ihnen nicht mehr trauen konnte, beschämt und gedemütigt zu werden, nicht beschützt zu sein. Es gab Gewalt gegen mich und meine Geschwister, und wir mussten erleben, dass der Vater die Mutter schlug (damit es keine Augenzeugen gab, wurden wir aus der Wohnung geworfen und ins Treppenhaus verbannt). Ich erlitt sexuelle Übergriffe, von denen meine Eltern wussten, sie aber nicht wirksam unterbanden.

Als Mädchen habe ich mir in Tagträumen ausgemalt, ein Adoptivkind zu sein. Meine echten Eltern seien ganz liebe Eltern, die mich überall suchten und bloß noch nicht gefunden hätten. Eines Tages würden sie kommen und mich mitnehmen.

Meine Vergangenheit kann ich nicht ändern, sie gehört zu meiner Lebensgeschichte und der Frau, die ich heute bin. Zum Glück gab es in meiner Umgebung auch viele stärkende Einflüsse, zum Beispiel zugewandte Großeltern, die mir Gutes taten. Ich hatte geradezu einen Riecher für Ersatzeltern außerhalb meiner Familie, die immer wieder in meiner Kindheit und Jugend für mich da waren. 

Mit meinen Eltern bin ich im Reinen, ich habe ihnen verziehen, ein langwieriger und in kleinen Portionen befreiender Prozess war das. Heute kann ich respektieren, dass sie so gute Eltern waren wie sie sein konnten und sie wieder lieben. Ein breites Thema in Therapien, die ich machte und wichtig in der Schrittearbeit im Programm der Anonymen Alkoholiker. Ich bin heute dankbar für meine Nüchternheit und Genesung und führe ein gutes, geborgenes Leben mit einem hohen Maß an Freiheit und Selbstbestimmung. Meine Alkoholsucht und wie ich den Weg heraus gefunden habe, ist ein Teil meiner Lebensgeschichte und prägt mich heute als Mensch. Auch dafür bin ich dankbar.

In meinem Fall war das Trinken die letzte Sucht, zu der ich Zuflucht nahm. Essen war die erste und wenn ich mich mit ihr auseinandersetze, begegne ich der kleinen Juna, die eine liebevolle Nachbeelterung brauchen kann, wie mir scheint. Ja, das gehe, lese ich. Man könne sein inneres Kind auch spät im Leben noch trösten und aufbauen, sogar heilen.

Danke trauriges Echo, danke an alle meine Gefühle! Erst heute, nachdem ich nüchtern und ein gutes Stück genesen bin, habe ich die Wahl, euch mit etwas anderem außer Betäubung zu begegnen. Ich kann euch vorüberziehen lassen oder mich mit euch beschäftigen, euch bedenken und beschreiben.

Heute habe ich Schmerz über vorenthaltene, verpasste und vertane Chancen empfunden. Für die vertanen bin ich ganz allein verantwortlich. Traurig bin ich, wenn ich an mich als Kind und Jugendliche denke. Wenn ich noch genauer hinschaue, könnte es sein, dass ihr Gefühle mir einen Auftrag gegeben habt. Vielleicht ist das jetzt dran: Ganz weit zurückgehen, um weiter zu heilen und endlich damit aufhören können, es endlos zu wiederholen.

 Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

 

PS: Das Buch heißt: "Sternhagelnüchtern. Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu bleiben" geschrieben von Catherine Gray und es gehört zu meinen Favoriten.

PPS: Den ACE (=adverse childhood experiences) Fragebogen gibt es auch auf deutsch:

https://zep-hh.de/wp-content/uploads/2020/09/ACE-Deutsch.pdf  

PPPS: Falls Du den Fragebogen ausfüllen möchtest: Nimm Dir Zeit und sorge gut für Dich, vielleicht hast Du einen lieben Menschen neben Dir oder vielleicht hilft Dir ein Gebet oder eine Entspannungsübung. Denk an das Kind in Dir - wie würdest Du es bei einer schwierigen Aufgabe begleiten?

Kommentare

  1. Liebe Juna,

    schon mehrmals habe ich nun diesen Eintrag gelesen. Er bewegt mich sehr.
    Du nimmst mich mit in Deine Erfahrungen und Welten. Ganz nah und schmerzhaft.
    Danke.
    Ich habe vor einigen Jahren eine knappe Woche einen Prozess durchlebt und bin dort meinem Kind-Ich begegnet. Bin meinen Eltern "begegnet", habe mich zurückfallen lassen, Schmerz und Freude gespürt, viel geschrieben und am Ende bin ich mit einer großen Ruhe und Liebe aus dieser Woche gegangen. An diese Woche habe ich schon länger nicht mehr gedacht. Durch Deine Zeilen konnte ich da wieder hinschauen und mich freuen, dass auch ich mit meinen Eltern Friede gefunden habe.

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