Sommerreise durch Südengland Teil 2 - ein Buchladen und ein Frauenmeeting in Bath

Ich denke, Frauen trinken anders und Frauen genesen anders als Männer. Es gibt viele Themen rund um die Sucht, die frauenspezifisch sind. Auch ich habe in Frauenmeetings den Schutzraum gefunden und geschätzt. Zuerst nur als Zuhörerin, dann noch viel mehr, als ich den Mut fasste, zu teilen und auch heute noch als Sprecherin, wenn ich mich mit meinen Rollen als trinkende Frau, Ehefrau und Mutter auseinandersetze.

Alles was uns heute selbstverständlich erscheint, wie Meetings nur für Frauen und Sponsorinnen für Frauen, mussten sich die Pionierinnen in AA erkämpfen. Noch Jahrzehnte danach bohrten hartnäckige Frauen dicke Bretter, um ihre Anliegen vor Ort durchzusetzen. Nicht wenige Männer sahen keinerlei Notwendigkeit dafür - AA ist auch in dieser Hinsicht ein Ausschnitt der Gesellschaft.

Auf meiner Heilungsreise gab es auch gute und sehr hilfreiche Erfahrungen in gemischten Meetings, und ich konnte von vielem profitieren, was Männer teilten. Doch der bedeutendste Teil meiner Genesung hat in Gemeinschaft mit Frauen und in der Schrittearbeit mit meiner Sponsorin stattgefunden und wäre ohne Zoom so nicht möglich gewesen.  Wenn ich heute die Wahl habe, besuche ich gerne Frauenmeetings auf Zoom oder in Präsenz und so auch auf meiner Reise durch Südengland.

Bath wollen wir uns ansehen, eine Stadt im Südwesten mit großer Geschichte und vielen Sehenswürdigkeiten. Zuallererst interessieren mich die Buchläden und das Frauenmeeting, das ich schon im Auge habe. Aus AA-Blickwinkel betrachtet, ist die Stadt sehr gut aufgestellt: bei rund 86 000 Bathsonians, wie sie sich selber nennen, gibt es ein Angebot von 20 verschiedenen Meetings pro Woche, darunter das Frauenmeeting, eins für junge Leute, eins zum Meditieren, eins für die Literatur und viele andere Formate und das nur im Stadtgebiet. In der angrenzenden Region gibt es noch zahleiche weitere Angebote. Es muss hier viele aktive Menschen geben, die all diese Meetings ermöglichen und genügend Freunde und Freundinnen, die sie regelmäßig besuchen. Ich könnte mich fühlen wie ein Kind im Spielzeugladen, aber ich weiß ja schon, wo ich hinwill.

Wir begannen unseren Nachmittag in Bath mit dem Besuch des Persephone-Buchladens. Er ist an sich schon eine Augenweide, aber einzigartig macht ihn sein Konzept: Überwiegend wird hier Literatur verkauft, die von Frauen geschrieben und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Persephone verlegt diese Bücher neu, um die Werke guter Autorinnen vor dem Vergessen zu bewahren. Es sind oft Texte aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, Romane, Kurzgeschichten, Lyrik und auch Kochbücher. Die Gründerin schrieb, gerade in dieser Zeit gab es ausgezeichnete Schriftstellerinnen und sie seien bestens ausgebildet gewesen, aber die Gesellschaft um sie herum noch nicht bereit, ihnen zu erlauben, außerhalb des Hauses zu arbeiten. Da sei das Schreiben ein guter Kompromiss gewesen.

Ein Buchladen, der fast nur selbst verlegte Werke verkauft. Sie sind alle in grau eingebunden und man bekommt ein Lesezeichen dazu. Es hat ein Design aus dem Jahr der Erstveröffentlichung zum Beispiel ein Stoffmuster, und es findet sich auf dem Vorsatz des Buches wieder. Das sieht bildschön aus. Früher war der Laden in London, heute ist er in Bath, was für ein Glück für mich. Benannt wurde er nach Persephone. Die Tochter des Zeus wird mit dem Frühling in Verbindung gebracht. Ihr Name wurde als Symbol der weiblichen Kreativität und des Neubeginns gewählt

Mich hat das begeistert: Was für eine wirtschaftlich waghalsige, aber literarisch brillante Idee, jedes Jahr fünf bis sechs vergessene Bücher von Frauen neu zu drucken und nur das eigene Sortiment im Laden zu verkaufen. Und ich mag den Gedanken hinter der Namensgebung: Auch die Heilungsreise aus einer Sucht heraus ist ein Neubeginn. Für mein Leben war es der radikalste und alles entscheidende. Mit dem Symbol weiblicher Kreativität verbinde ich viel: Erst durch meine Genesung konnte ich meine eigene Stimme finden und seitdem regelmäßig schreiben. 

Mit Persephone-Umhängetasche und zwei Persephone-Büchern darin, kreuzte ich am frühen Abend im Frauenmeeting von Bath auf. Wir waren schon ein paar Stunden vorher kurz dagewesen, um sicher zu sein, wo ich abends hinmuss. Der Meetingsraum ist in einer Kirche, und auf der Treppe davor lungerten und lärmten einige Menschen herum, die mir sehr kaputt, verloren und betrunken vorkamen. Ich war froh, hier nicht alleine zu sein. Kurz vor Meetingsbeginn kam eine elegante Frau auf die Treppe heraus und schickte die Gruppe weg, die ohne viel Federlesens weiterzog. Sie lächelte mich herzlich an und fragte diskret, ob ich zum Meeting mit Bill möchte. Beim Hineingehen entschuldigte sie sich für den unfreundlichen Empfang und meinte, manche seien respektvoll, wenn sie realisierten, dass es hier um ein 12-Schritte-Treffen geht, aber nicht alle. Traurig ist das Bild der Gruppe auf den Stufen der Kirche: Da drinnen ist die Lösung, aber sie sind draußen.

Es kamen um die 16 Frauen, vom Alter her gut gemischt, auch zwei sehr junge Frauen waren dabei. Wir warteten auf die Sprecherin, die sich verspätet hatte und plauderten angeregt. Von allen Seiten wurde ich gefragt, ob ich das erste Mal in einem Meeting sei, und als ich erzählte, ich sei aus Deutschland auf Besuch und gut drei Jahre bei AA, gab es ein großes Hallo. Eine Dame neben mir, Amerikanerin aus Mississippi hatte mehrere Jahre in Norddeutschland gelebt, ehe sie mit ihrem Mann nach Bath gezogen war. Auch andere Frauen erzählten, wo sie schon in Deutschland waren. Wir fanden es wunderbar, dass wir als Teil der Gemeinschaft auch im Ausland Meetings und Kontakt finden. 

Schließlich kam die Sprecherin und das Meeting begann. Ihr Thema war Scham und Schuld. Aus meiner Sicht ein großes Frauenthema, das auch in vielen veröffentlichten Lebensgeschichten von AA-Frauen eine enorm wichtige Rolle spielt. Es geht oft um das Versagen als Mutter und um Missbrauchserfahrungen im betrunkenen Zustand. 

Die meisten Frauen im Meeting, darunter ich, teilten, weil uns so viel ansprach, das wir auf unsere eigenen Erfahrungen beziehen konnten. Als das Teilen beendet war, durfte ich die Versprechen lesen, was ich mit Herzklopfen, aber sehr gerne tat. Nach dem Meeting kam ich kurz mit der Sprecherin ins Gespräch, die mir den Grund ihrer Verspätung verriet: Sie war noch mit der Produktion ihrer neuesten Podcast-Folge beschäftigt gewesen. Ich habe mir inzwischen eine Folge angehört und bin beeindruckt. Er richtet sich speziell an Menschen, die abstinent werden wollen oder schon sind und dennoch weiterhin in der Gastronomie arbeiten möchten. Ich stelle es mir besonders herausfordernd vor, von Alkohol umgeben zu sein und damit zu hantieren, während man versucht, trocken zu werden und zu bleiben. Sie lädt Gäste aus der Branche in ihren Podcast ein, die nüchtern leben und andere teilhaben lassen, wie sie diese Gratwanderung meistern. Das finde ich großartig.

Zum Abschied gab es Umarmungen und viele gute Wünsche. Glücklich und dankbar, angeregt und gestärkt kam ich heraus und strahlte meinen Mann an, der inzwischen mit dem Hund durch das malerische Bath spaziert war.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna 
 
PS: Das steht im Schaufenster von Persephone books:
 

 PPS: Das Persephone-Buch, das ich gerade lese heißt: "They were Sisters". Dorothy Whipple beschreibt darin die Lebensgeschichten dreier sehr verschiedener Schwestern über zwanzig Jahre. Bedrückend lebensnah erzählt sie, wie eine von ihnen, gefangen in einer absolut toxischen Ehe, alkoholabhängig wird. Das passiert vor den Augen ihrer Schwestern, die ihr nicht helfen können, weil sie sich aus der Verstrickung mit ihrem Ehemann nicht löst. Ihr Lebensweg endet nahezu unausweichlich in einer Tragödie.
 
PPPS: Der Podcast heißt: "we recover loudly".

PPPPS: Beim Schreiben des zweiten Teils habe ich beschlossen, es wird noch einen dritten geben. Weitere Ankündigungen bezüglich der Reiseberichte lasse ich ab jetzt  bleiben.

Kommentare

  1. Liebe Juna, wieder einmal fühle ich mich mitgenommen in einen Teil deiner Erlebnisse. Danke! Auch ich mag gemische AA Meetings und doch, ich persönlich liebe nunmal die Frauenmeetings. Jeden Morgen starte ich, außer wenn ich arbeiten muss oder etwas dringendes anliegt, mit ca. 50 bis 60 Frauen in den Tag. Meine Genesungsfamilie. I love it!
    Wie schön, dass du Bath nicht nur als Touristin erleben durftest, sondern als Mitglied einer weltumspannenden Gemeinschaft.
    Ich freue mich schon auf den nächsten Teil der Reise. Love hage-dorni

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