Sommerreise durch Südengland Teil 1 - auf den Spuren von Bill W.

 

Im August 1918 stand Bill Wilson auf dem Friedhof der Kathedrale von Winchester vor dem Grabstein eines Soldaten, der mit 26 Jahren gestorben war. Thomas Thetcher war nicht durch ein Gewehr umgekommen, sondern durch Alkohol. Heute wird vermutet, er starb an einer Infektion, die durch kontaminiertes Bier verursacht wurde. 

Im August 2023 stehe ich vor diesem Stein und bin unendlich dankbar, dass Bill nicht nur für sich abstinent werden konnte, sondern gemeinsam mit Dr. Bob ein Lebenswerk begann, das im Laufe der Jahrzehnte unzählige Menschen gerettet hat. Mich auch!

Mit Bills Erinnerung an die Inschrift auf dem Stein beginnt das Buch "Alcoholics Anonymous". Er sieht in ihr eine Warnung, die er missachtet habe und es muss ihm wichtig gewesen sein, denn er nahm diese Erfahrung in seine Lebensgeschichte in das Buch auf. Die Lebensgeschichten sollten andere alkoholabhängige Menschen inspirieren, denselben Weg zu gehen, der ihm und anderen Gründungsmitgliedern geholfen hatte, vom Alkohol loszukommen.

Damit Bill diesen Stein sehen konnte, war eine lange Geschichte von Restaurierung, Ersatz und Umsetzung an einen anderen Platz nötig: Das Original von 1764 wurde 17 Jahre später von Offizieren vor dem Verfall gerettet und restauriert. Wieder andere Soldaten hatten das Gedenken an den toten Kameraden bewahrt, indem sie den zerstörten Stein 1802 durch einen neuen ersetzten und an einer anderen Stelle aufrichteten. Das war der Stein, vor dem Bill 1918 stand. Ohne das Bedürfnis der Menschen, die Erinnerung lebendig zu halten, hätte es all diese Anstrengungen nicht gegeben. Der Stein wäre längst nicht mehr da gewesen, als Bill Wilson 154 Jahre nach der Beisetzung von Thomas Thetcher an diesen Ort kam.

Um den stark verwitterten Grabstein endgültig zu schützen, wurde er 1966 ins Museum gebracht, wo er heute noch besichtigt werden kann. Der Stein, vor dem ich stand und der auf dem Foto zu sehen ist, wurde dem alten Stein exakt nachempfunden. Diese Kopie steht gegenüber dem Haupteingang der Kathedrale in der Nähe eines Denkmals und ist leicht zu finden. Im Gegensatz zu den anderen Gräbern, die von leuchtendem Grün umgeben sind, ist das Gras vor diesem Stein fast verschwunden. Hier stehen wohl oft Menschen, wahrscheinlich aus aller Welt, denn AA gibt es in vielen Ländern.

Für mich ist es ein überwältigender Moment, hier zu stehen und diese Inschrift selbst zu lesen. Ich bin erschüttert und die Tränen fließen: Seit dem 5. März 2020 lebe ich ohne Alkohol, und ich bin an jedem einzelnen Tag dankbar, dass ich nüchtern werden und bleiben konnte. Der erste Schritt zu meinem Leben ohne Alkohol war die Behandlung in einer Suchtklinik. Alle weiteren machte ich bei den Anonymen Alkoholikern. Heute leitet mich das 12-Schritte-Programm in meinem täglichen Leben, und es geht mir sehr gut damit. Mein Mann drückt meine Hand: Auch sein Leben wurde durch meine Nüchternheit und Genesung wieder leicht, frei von Angst um mich, erfüllt durch unsere glückliche Ehe und voller Vertrauen auf unser gemeinsames Altwerden.

Ich gehe ein paar Schritte nach vorne und schaue mir den Stein von allen Seiten an. Oben auf der Kante liegt ein Schlüsselanhänger mit einer Münze. CA steht darauf und die Worte "Hope", "Faith" und "Courage", auf der Rückseite "Eighteen Months". Ich nehme sie in meine Hände und schicke der Person, die sie hier abgelegt hat, meine Verbundenheit, meine Freude, meine Dankbarkeit für diese Geste und meine Liebe. Ich weiß, was es heißt 18 Monate Nüchternheit zu erleben. Sachte lege ich die Münze wieder auf die Kante des Steins und spreche stumm unser Gelassenheitsgebet.

Zuhause recherchiere ich, was CA ist: Es bedeutet Cocaine Anonymous, ein 12-Schritte-Programm für Menschen, die kokainabhängig sind. Es wurde 1982 gegründet und auch in diesem Programm wird mit dem Buch der Anonymen Alkoholiker gearbeitet. Die Vorderseite der Münze ist ihr Logo: CA steht in der Mitte und kreisförmig darum herum sind die Worte angeordnet, die Kraft geben: Hoffnung, Glaube und Mut.

Mein Mann bietet mir an, mit dem Hund draußen zu warten, damit ich einige Zeit allein in der Kathedrale verbringen kann. Ich kaufe ein Ticket und erfahre, es ist ein ganzes Jahr gültig, und ich lächle über die Frage, ob ich in den kommenden 365 Tagen noch einmal herkomme. Ich sehe mich um und entdecke die Bildschirme, über die Gebete laufen. Zum Beispiel dieses hier: 

"Dear God, thank you for all the good things in my life, big and small. Thank you for the people who care about me. Thank you for the beauty of the world, - the birds, the trees, the sky. Thank you for everything that makes me who I am or helps me to grow as a person." Daneben steht der Text in ukrainischer Sprache und Schrift und die blau-gelbe Flagge ist abgebildet.

Ich zünde ein Teelicht für meine Verstorbenen an und setze mich auf eine Bank. Einige Meter entfernt steigt ein Mann die Treppe zu einer Kanzel hoch und bittet um Aufmerksamkeit für ein Gebet. Es dauert einige Augenblicke, bis es ruhig wird und die flüsternden Menschen sich darauf einstellen, dass es jetzt Stille braucht. Der Sprecher endet mit dem Vaterunser, und ich bin besonders berührt, weil mit dem englischen Vaterunser die Geschichte verbunden ist, wie ich meine Höhere Macht gefunden habe. Mich genau jetzt und genau hier daran zu erinnern, macht mich vollkommen durchlässig, und ich fühle mich tief mit Gott verbunden, wie ich Gott verstehe.

Als ob es noch nicht genug sei, beginnt jetzt Musik: Der Chor singt und die Orgel ertönt. Bevor es mich endgültig wegspült, ist es wieder vorbei. Ich erfahre, es war eine kurze Probe für das Abendgebet, das heute musikalisch begleitet wird.

Später lese ich, das heutige Abendgebet gilt dem Bischof William Waynflete von Winchester, der am 11. August 1486 verstorben ist und ein berühmter Geistlicher und Politiker war. In einem großen, aufgeschlagenen Buch hinter Glas steht sein Name für das Gedenken beim Abendgebet in feinster Handschrift notiert. Auf der benachbarten Seite für den 12. August wird eine gewisse Doris Arnold genannt, die 1976 verstarb. Offensichtlich muss man nicht berühmt sein, damit hier beim Abendgebet an einen gedacht wird. Es genügt, bedeutend zu sein für Menschen, die einen geliebt haben oder die Erinnerung aus anderen Gründen lebendig halten möchten. 

So wie Generationen von Soldaten nach Thomas Thetcher dafür sorgten, dass der Grabstein eines Kameraden erhalten blieb, den sie niemals kennengelernt hatten. Durch Bills Lebensgeschichte im Blauen Buch kennen heute Millionen Menschen die Grabinschrift für Thomas. Im Jahr 2010 wurden Zahlen veröffentlicht: über 30 Millionen verkaufte Exemplare und Übersetzungen in mehr als 70 Sprachen. 

 

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

 

 PS: Es wird noch einen zweiten Teil meines Reiseberichts geben, darin geht es um die schöne Gelegenheit, unterwegs Meetings zu besuchen und die Gemeinschaft der AA in einem anderen Land kennenzulernen.

Kommentare

  1. Liebe Juna, ich danke dir dass du das mit uns geteilt hast! Ich war beim lesen sehr berührt und danke Thomas Thetcher und alle denen, die diesen Gedenkstein erhalten haben! Ohne ihn und die Inspiration von Bill W. und die Gründung von AA, wäre auch ich heute nicht 1070 Tage trocken. Mein Leben, falls ich nicht durch Alkoholismus schon längst gestorben wäre, wäre heute nicht so schön, wie es gerade ist! Ich habe auf meiner USA Reise ebenfalls sehr berührende Erfahrungen in AA Meetings und an besonderen Orten machen dürfen! Mein neues Leben ohne Alkohol ist, Mithilfe des 12 Schritte Programms, nicht nur möglich, sondern auch so viel besser geworden! LG, Sylvia 🇦🇹

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  2. Liebe Juna,
    ich durfte an Deiner Seite sein, als wir diesen besonderen Ort besucht haben. Viele Grabsteine hatten wir uns schon vorher auf den englischen Friedhöfen angesehen - keiner von ihnen hat diese Wirkung auf mich, wie der von Thomas Thetcher. Es sind die besonderen Worte, die für Thomas gefunden wurden. Es ist die Geschichte von Bill, die mit diesem Stein verbunden ist. Als wir davor standen fühlte es sich besonders an. Wie eine Art Magie. Plötzlich hörte ich nichts mehr von den Familien und den spielenden Kindern, die dort tobten. Stille. Und der Moment hatte große Kraft.

    Ich danke Bill, AA und Dir für Euren Weg und das Glück, das ich mit Dir in unserem Leben teilen darf.
    Ich bin dankbar dafür, dass mein Leben dadurch leichter geworden ist. Ich bin dankbar für jeden gemeinsamen nüchternen Tag mit Dir.

    C.

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  3. Liebe Juna, sei herzlich bedankt für diesen schönen, Reiselust weckenden Text. Das niedergetretene Gras zeugt von vielen Besuchern. Auch ich würde gerne einmal dort stehen und vielleicht eine Münze ablegen. Ich freue mich schon sehr auf den zweiten Teil deines Reiseberichts. In Liebe hage-dorni

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