Mit der Lesebrille fing es an und plötzlich habe ich ein Ersatzteillager - vom Kränkeln, Älterwerden und Schämen

Im Buchladen stöbern oder in einer schönen Papeterie, mal wieder durch eine Möbelausstellung bummeln oder einen neuen Duft aussuchen... Klingt wunderbar, aber ich werde inzwischen im Sanitätshaus mit Namen angesprochen. Dort tauche ich regelmäßig auf, lege das nächste Rezept vor, entblöße den betroffenen Körperteil zum Maßnehmen und nenne das nächste Ersatzteil mein Eigen.

Zum großen Glück habe ich keine lebensbedrohliche Erkrankung. Mich plagen chronisch schmerzhafte Entzündungen, die Gesundheitsmanagement erfordern, mir viel Zeit und Geduld abverlangen und anscheinend meine Übungsfelder für Akzeptanz sind. Denn nichts davon geht mehr weg und alles wird sich mit zunehmendem Alter verschlimmern. Mit gutem Bewegungsfleiß,  bravem Einnehmen der Medikamente und mit dem sachgemäßen Tragen der Ersatzteile kann ich den jetzigen Zustand stabilisieren und möglicherweise anstehende Operationen hinauszögern.

Gern sprechen meine Ärzte von Verschleißerscheinungen, je nach ihrem eigenen Geburtsjahrgang mehr oder weniger unverblümt, je jünger desto breiter kann das Grinsen ausfallen. Älterwerden -  als Frau jenseits der Wechseljahre bin ich damit konfrontiert, dass Krankheitsrisiken steigen und auch bei mir bereits Wirklichkeit geworden sind. Bis jetzt komme ich mit dem Älterwerden ganz gut klar, denn die Alternative ist hässlich: Wer will schon jung sterben? Gut, dass diese Gefahr schon länger hinter mir liegt. Außer dem Älterwerden ist nur noch der Tod die ultimative Macht, die niemand brechen kann. Und ich übe mich täglich darin, meine vielen kleinen und großen Machtlosigkeiten anzunehmen.

Eine Sache belastet mich immer wieder: Die boshafte Frage an mich selbst, ob mein ehemaliger Alkoholismus schuld sei. Und ob ich das dem Neurologen oder der Orthopädin beichten müsse.

15 Jahre lang habe ich süchtig getrunken, die letzte Hälfte davon mit steigendem Konsum, von einigen Trinkpausen abgesehen, die meiste Zeit täglich und in großen Mengen. Alkohol ist ein hochpotentes Nervengift und kann überall im Körper großen Schaden anrichten. Gut möglich, dass ich heute mit Krankheiten kämpfe, die ich ohne Alkoholkonsum nicht bekommen hätte. Das löst Scham bei mir aus, denn ich hätte ja ein suchtfreies, gesundes Leben führen können. Ich bin ja selbst schuld. Da sind sie also wieder, die altbekannten, hässlichen Fratzen von Scham und Schuld: zu nichts nutze, außer mir das Leben schwer zu machen, wo es absolut unnötig ist. 

Heute bin ich froh und dankbar, dass ich Gegenmittel kenne. Sobald sie mir wieder einfallen, wende ich sie an: Ich zerre Scham und Schuld ans Licht, das mögen sie nicht. Ich spreche mit meinem Mann darüber und ganz viel mit AA-Freundinnen, ich gehe in Meetings und höre anderen zu. Ich schaue mir an, wie andere Menschen damit umgehen. Dann komme ich aus dem verrückten Gedanken heraus, nur mir gehe das so. 

Nach meiner Erfahrung hilft auch Sachwissen weiter: Die Ursachen von Suchterkrankungen sind vielfältig und nicht leicht erklärbar. Je nachdem, wer darüber spricht, ob Neurologen, Biologen, Gehirnforscher, Psychologen oder Suchtärzte, folgen sie unterschiedlichen Ansätzen, das Phänomen zu verstehen. Ein schlichtes "selber schuld" trifft keinesfalls zu. 

Ich erinnere mich, dass ich meine Vergangenheit nicht ändern kann. Ich erkenne an, dass Gefühle, auch die negativ besetzten, unkontrolliert auftauchen. Darüber habe ich keine Macht. Heute habe ich die Wahl, wie ich mit ihnen umgehen möchte: Trinken ist keine Option mehr, emotionales Essen hingegen immer noch. Wenn ich es schaffe, sie auszuhalten, mache ich immer wieder die befreiende Erfahrung, dass sie vorübergehen. Um meine aufgewühlte Seele zu beruhigen, bringe ich meine Scham- und Schuldgefühle in mein Twowayprayer und finde hier Antworten von Liebe, Kraft und Geduld, die mir helfen, mir zu verzeihen und mich wieder zu lieben.

Auch hier darüber zu schreiben, erinnert mich an meine Wahlmöglichkeiten: Die Wahl zu haben, ist das Gegenteil von Sucht. Und ich habe Werkzeuge, die mir helfen, auch an sie erinnere ich mich beim Schreiben. Es fühlt sich gerade richtig gut an, zu spüren, dass ich Scham und Schuld nicht mehr ausgeliefert bin. Und mir wird wieder einmal klar, dass Selbstverzeihen und Selbstliebe in wiederkehrenden Gefahrensituationen verteidigt werden wollen. Ich kann sie nicht wie einen Kieselstein in meiner Hand umklammern. Ich kann ihnen aber meine Hand hinhalten und sie lassen sich wie Schmetterlinge darauf nieder. Klingt poetischer als es ist, und ich muss selber lachen über diesen kitschgrenznahen Vergleich.

So und was ist nun mit der Ärztebeichte? Mein Hausarzt muss es wissen und ihm habe ich mich offenbart. Für die Ursachenforschung ist meine ehemalige Alkoholsucht zu unspezifisch, sie kann eine Rolle spielen, muss aber nicht. Für die Behandlung hat sie keine Bedeutung. Sollte ich eine Operation mit Vollnarkose brauchen, kann ich mir Rat holen und mit der Anästhesistin darüber sprechen. Das entscheide ich, wenn die Lage eingetreten ist.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna 
 
 

 

 


 
 

Kommentare

  1. Ich liebe Deine Art zu schreiben.
    Ja das Ersatzteillager ist auch bei mir zu Hause. Aber wir leben. Und Gottseidank gibt es Ersatzteile für uns!
    Freue mich schon auf Deinen nächsten Blog

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  2. Liebe Juna, ich habe mit einem Lächeln, trotz des ernsten Themas, deinen Text gelesen. Humor ist, wenn man trotzdem lacht!
    Besonders gefällt mir der Satz, „ Wer will schon jung sterben?“. Also nehme ich doch auch lieber die kleinen gesundheitlichen Kümmernisse auf mich.
    Es war sehr schön wieder einmal etwas in deinem Blog zu lesen. Vielen Dank 🙏

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