Ein 9. Schritt: nach 15 Jahren Kontaktabbruch bekomme ich meinen Bruder zurück

Wir sind nur elf Monate auseinander, wir waren als Kinder immer eng miteinander. Wir haben den letzten Willen unserer Mutter gemeinsam durchgesetzt. Wir haben sie bis zu ihrem Tod begleitet. Danach die letzten Dinge für sie getan, und er hat am Schluss das Laken über sie gebreitet. Doch nicht einmal diese gemeinsame Grenzerfahrung konnte verhindern, dass wir uns zwei Jahre später mit solcher Wucht zerstreiten, dass unser Kontakt abbricht und das kalte Schweigen 15 Jahre lang anhält.

Heute sind wir liebevoll verbunden, schreiben uns Nachrichten, schicken Fotos, besuchen uns gegenseitig und nehmen liebevoll Anteil an unseren Leben mit Ehepartnern, Kindern, Hunden, Hobbies und Berufen. Mein Bruder ist ein feiner Mensch, und ich genieße jede Zeit mit ihm. Es ist ein Geschenk, ihn und seine Familie wieder in meinem Leben zu haben.

Dazwischen liegt eine Wiedergutmachung.

Einer der Meilensteine im Zwölf-Schritte-Programm der AA ist der 9. Schritt. Er besagt, wir machen den Schaden wieder gut, den wir anderen Personen zugefügt haben, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.

Das können sachliche Wiedergutmachungen sein wie Geld zurückzahlen, wenn man gestohlen hat oder praktische Hilfeleistungen. Sehr häufig sind es aber Wiedergutmachungen auf der Beziehungsebene, so wie mit meinem Bruder. Mein Alkoholkonsum hatte zu unserem Zerwürfnis beigetragen, denn er hatte den Ton der Auseinandersetzung immens verschärft und mein Urteilsvermögen beeinträchtigt. Jede Form von Großzügigkeit, Güte oder Nachsicht war mir in diesem Konflikt abhandengekommen.

So eine Wiedergutmachung ist eine Rosskur fürs Ego und will sehr gut vorbereitet sein. Im 9. Schritt hatte ich die vorausgehenden 8 hinter mir und begann nun mit meiner Sponsorin das „Wörter kneten“. Damit meine ich, eine Wiedergutmachung so zu gestalten, dass sie keine Rechtfertigung des eigenen Handelns enthält, dass sie klar den Alkoholismus benennt, dass sie schonungslos ehrlich ist und die eigenen Fehler ausspricht, dass ich die Verantwortung für mein Handeln übernehme und keine mildernden Umstände für mich beanspruche, wie es vor Gericht üblich ist. Auch der Schuldanteil der anderen Person spielt keine Rolle, hier geht es um meine Fehler und um meine Verantwortung. Ein komplettes Outing - Stolz ade und das gegenüber einer Person, von der ich nach 15 Jahren ohne Kontakt nichts weiß, nur das bisschen, was ich googeln konnte.

Meine Form der Wiedergutmachung sollte ein Brief sein, denn die Adresse existierte noch. Und so schrieb ich mehrere Fassungen. Anfangs war ich nicht bereit, zuzugeben, dass ich alkoholabhängig geworden war und nun bei den AA und deshalb diesen 9. Schritt zu tun hatte. Ich war auch noch nicht völlig bereit, meinem Bruder seinen Anteil zu verzeihen. Und ein Riesenthema war die Frage, was ist eine Information und was ist eine Rechtfertigung? Denn ich wollte erklären, warum ich dies oder jenes gesagt oder getan hatte. Meine Sponsorin aber bestand darauf, das seien alles Rechtfertigungen und die gehörten in diesen Brief nun mal nicht rein.

Ich hatte Angst vor seiner Reaktion oder dass er gar nicht reagiert. Mich ins Unbekannte hinein derart zu entblößen, war eine der schwersten Überwindungen in meinem Leben. Der Prozess, diesen Brief zu schreiben, meine innere Verarbeitung, das Verzeihen auf allen Seiten, ihm, mir selbst und die Bereitschaft, es zu tun und dann loszulassen, dieser Prozess dauerte fast zwei Monate. Vom vielen Wörter kneten hatte ich schon Schwielen im Hirn und Muskelkater im Herzen. Ohne meine spirituelle Unterstützung, meine Höhere Macht der Liebe und ohne meine unermüdliche Sponsorin hätte ich das nicht geschafft.

Der Brief erreichte meinen Bruder an seinem Geburtstag, weil das Leben die schönsten Geschichten schreibt. Auch seine Frau bekam einen, auch bei ihr war eine Wiedergutmachung nötig. Beide öffneten weit ihre Herzen und machten es mir mit ihren lieben Antworten so leicht wie nur möglich. Ein paar Wochen später schneite ich auf dem Rückweg vom Urlaub bei ihm vorbei, Drücken, Weinen und nochmal Drücken und der Rest ist ein immer noch andauerndes Happy end.

Das ist ein Geschenk, nicht immer nehmen die Menschen die Wiedergutmachung und Bitte um Verzeihung an. Damit wird der 9. Schritt aber nicht sinnlos. Der Wert besteht in der tiefen Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern, der Gesundschrumpfung des Egos, dem Überwinden von Angst und der Übernahme von Verantwortung für sich selbst. Er löst Selbstverzeihung und Akzeptanz der eigenen Vergangenheit aus, er ist eine ungeheure Befreiung, unabhängig davon ob es zu einer ausgesprochenen Vergebung durch die andere Person kommt.

Für mich hat dieser schwierige Schritt dazu geführt, dass ich heute keine Scham mehr empfinde, alkoholsüchtig geworden zu sein, dass ich meine Lebensgeschichte annehme und Gelassenheit Einzug gehalten hat, weil meine Beziehungen in Ordnung sind und so authentisch wie nur möglich.

 

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna 

 

„Irgendwie cool, dass du Alkoholikerin geworden bist, sonst wären wir heute nicht in Kontakt und würden gar nichts voneinander mitkriegen“, meinte mein Bruder.

In der Sache gebe ich ihm Recht, aber die Methode würde ich trotzdem nicht empfehlen.

 



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kommentare


  1. Liebe Juna, mit großer Freude habe ich deinen Beitrag gelesen! Die "Versöhnungsgeschichte" mit deinem Bruder ist sehr bewegend. Ich glaube Freude, Erleichterung und Liebe in deinen Worten zu spüren. Wieder einmal bin ich fasziniert von den schönen Worten, wie z.B. "Schwielen im Hirn und Muskelkater im Herzen". Für diesen Teil deiner "Genesungsgeschichte" danke ich dir wieder einmal von Herzen! Deine hage-dorni

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    1. Wie recht du hast, liebe hagedorni. Diese Passage ist auch mir sofort im Gedächtnis geblieben. Schwielen und Muskelkater ❤️.
      Danke Juna. Danke für deine Offenheit und Liebe, die aus jeder Zeile zu lesen und spüren ist.
      Und der Anstoß an mich … Ja, es nun auch zu tun und es anzupacken.

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  2. Liebe Juna, ich freue mich sehr darüber, an deiner Arbeit an den Schritten teilnehmen zu dürfen. Beim Lesen überdenke ich nicht nur meine persönliche Entwicklung in AA, sondern auch meine aktuelle Arbeit in den Schritten. Für mich sind die Schritte, eine große Hilfe auch bei der Bewältigung alltäglicher Probleme. Der 10. Schritt begleitet mich schon viele 24 Stunden und ich teile ihn vorwiegend mit den Frauen im Frauenmeeting, die mir treu und ehrlich zur Seite stehen und mich durch ihre Beiträge korrigieren, wenn ich mich verrenne. An dieser Stelle freue ich mich über dein Teamwork mit deiner Sponsorin und deinen Blog, mit dem du mit uns Leserinnen teilst und uns unterstützt. Ich kann deinen Bruder schon verstehen, wenn er sich freut, dass du bei AA bist.😊
    Ich freu mich schon auf deinen nächsten Blog. Liebe Grüße B.

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  3. Liebe Juna! Danke für den Beitrag zum 9. Schritt! Ich lese deine Beiträge, wie immer, mit großem Interesse und lerne in meiner Genesung täglich dazu. Auch meine Sponsorin, hatte zu meinem großen Ärger (Jaja, das Ego…) einige Anmerkungen, die ich Anfangs nur mit Widerwillen annehmen konnte. Als ich in deinen Beitrag - vor allem den über Erklärungen, Rechtfertigung, etc., gelesen habe, geht es mir gleich wesentlich besser! Denn ich als Alkoholikerin habe wie immer das Gefühl mit solchen Themen alleine zu sein! Nach deinem schönen Text geht es mir gleich besser. Denn es sind noch einige 9. Schritte offen, mit denen ich „kämpfe“, sie schreibe, verwerfe, neu schreibe,…Da spielt mit Sicherheit auch Angst vor Zurückweisung und ganz viel Scham eine große Rolle! Herzlichen Dank für deine Worte und ich freue mich schon auf den nächsten Beitrag! Liebe Grüße und gute 24 Stunden

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