Wie geht Verzeihen? Teil 3: Meiner Mutter

 

Liebe Mama, heute wäre Dein Geburtstag, und Du wärst 82 Jahre alt. Kaum vorstellbar für mich, denn in meiner Erinnerung bist Du nicht viel älter als ich heute bin, wenn ich an die letzten Momente Deines Lebens denke: Meine Hand liegt unter Deiner. Du machst immer längere Pausen zwischen Deinen Atemzügen. Dann kommt keiner mehr. Es ist vorbei – Du hast es geschafft. 

Oliver und Sabine sind bei mir. Still bleiben wir an Deinem Bett sitzen. Mir kommt es vor, als ließen wir Deine Seele ziehen. Wir lassen die Zeit stillstehen und geben erst eine Stunde später dem Personal Bescheid. Wir drei sind es, die Dich entkleiden und waschen, letzte, liebevolle Berührungen. Es ist tief in der Nacht, als Oliver das Laken über Dich breitet und zum Schluss mit großer Zartheit Dein Gesicht bedeckt.

Ein paar Wochen später setzen wir Deine Asche im Friedwald bei, ein Wunsch von Dir. Es entsteht ein entzückendes Foto: Deine drei Enkelkinder sitzen aufgereiht auf Olivers altem Motorrad und blicken kess in die Kamera. Frauke ist 7 Jahre alt und ihr kleiner Bruder Lasse ist vier. Meine Lone ist auch um die vier. Niemand ahnt, dass Oliver die Kinder erst als Erwachsene wiedersehen wird.

Auch für ihn und mich wird es die letzte Begegnung für lange Zeit sein. Wir werden uns im Jahr darauf so heillos zerstreiten, dass es zum Kontaktabbruch kommt. Erst 15 Jahre später werde ich den Mut fassen, auf ihn und Sabine zuzugehen und um Verzeihung zu bitten. Das war vor zwei Jahren, und es sollte wohl so sein, dass er meinen Wiedergutmachungsbrief just an seinem Geburtstag bekam. Seitdem haben wir uns immer wieder gesehen. Wir telefonieren miteinander, schicken uns Fotos und Nachrichten, nehmen Anteil an unseren Leben. Eine besondere Freude für ihn ist der Kontakt zu Lone.

An Weihnachten gab es ein großes Wiedersehen von Oliver mit Frauke und Lasse bei uns zuhause. Es war eine liebevolle Begegnung mit großem gegenseitigen Interesse, zarten Fragen, herzhaftem Gelächter und sichtbarer Zuneigung. Und Du Mama, warst unter uns: Frauke bekam von Oliver die Kerze mit den goldenen Sternchen überreicht, die Du vor Deinem Tod für sie gemacht hattest. Sabine hatte sie all die Jahre aufbewahrt und nun war die Zeit gekommen – Frauke nahm sie still entgegen, nur ein scheues Lächeln im Gesicht.

Deine drei Enkelkinder haben das alte Foto auf dem Motorrad nachgestellt und es Oliver geschenkt. Sie haben gleich einen ganzen Kalender auf diese Art gestaltet und hatten viel Spaß dabei, ihre alten Kinderfotos nachzuahmen, ähnliche Klamotten und Requisiten zu finden, die Gesten nachzuspielen und auch die Frisuren möglichst originalgetreu hinzukriegen. Ihr Schwätzen, Flüstern und Kichern und die hektische Suche nach den richtigen Gegenständen hat unser Haus mit Leben und Liebe erfüllt. Der Kalender hängt bei Oliver an der Wand und zeigt die Versöhnung und Heilung in unserer Familie: Ich habe meinen Bruder wieder und er seine Schwester, dazu die Nichten und seinen Neffen, sie ihren Onkel. Leider sind wir nicht vollzählig. Aber die Teile der Familie, die sich ausgesöhnt und wiedergefunden haben, sind sehr glücklich. Auch über den guten Kontakt zu Sabine freue ich mich sehr: Ihre innige Beziehung zu Dir und ihre Sprache der Liebe habe ich erst jetzt verstanden.

Mich berührt, wie sehr Oliver unsere geschwisterliche Verbundenheit vermisst hat und nun umso mehr genießt. Wir waren sogar zusammen im Zoo, den wir als Kinder oft besucht haben. Dafür hat er sich einen Tag Urlaub genommen, und wir waren nur zu zweit unterwegs, diese Zeit gehörte uns allein.

Im Haus sind einige Fotos von Dir. In der Küche an der Pinnwand hängt immer mein aktuelles Lieblingsfoto, so schaue ich jeden Tag in Dein Gesicht und nur selten bin ich traurig dabei. An den Gedenktagen stelle ich eine Gerbera hin und eine Kerze dazu, im Flur auf dem Brett, an dem wir oft am Tag vorbeigehen. So ist es auch heute an Deinem Geburtstag. Du bist Teil meines Lebens, obwohl Du schon viele Jahre tot bist. Oft vermisse ich Dich, aber ich spüre auch die Befreiung aus einer emotionalen Verstrickung. Wir zwei waren nicht nur verbunden, sondern auch verwickelt und verknotet. Dein Tod hat die Verstrickung gelöst und die meisten Verwicklungen mit sich genommen, die anderen mein Weg durch die 12 Schritte. Heute spüre ich tiefe Verbundenheit mit Dir und wenn ich einer Verknotung begegne, dann tut sie meist nur kurz weh und erinnert mich daran, was ich noch lernen kann.

Genau wie Du, habe ich viele Erfahrungen mit Süchten, Krankheiten und Schmerzen und genau wie Du habe ich einen spirituellen Heilungsweg gesucht. Als pubertierende Jugendliche habe ich Dich ausgelacht, als Du Dir Sprüche aufgehängt hast: „Auch du bist ein Bild in mir, ich denke gut von Dir!“ hing in Deinem Schlafzimmer. Wie schwer muss es gewesen sein, in Dein aufgewühltes Seelenleben Ruhe und Kraft zu bringen? Herausgefordert von drei jugendlichen Kindern (ganz massiv von mir), eingepresst in Erwartungen von allen Seiten und verlassen von einem Ehemann, den Du zu selten als echten Beistand im Leben empfunden hast. Diese schwierige Ehe war das störende Grundrauschen meiner Kindheit. Doch Vater war da, als ich ihn brauchte, um Deinen letzten Willen durchzusetzen. Und er hat dafür gesorgt, dass Dein Baum im Friedwald nicht das spillerige Sparstämmchen blieb, das Du selbst gekauft hattest: Einen schönen großen Baum durfte ich aussuchen. Die Rechnung übernahm er.

Du hast nicht nur Spiritualität gesucht, sondern auch Deinen Weg als Künstlerin und als unabhängige Frau. Voller Hochachtung sehe ich heute, dass Du trotz vieler Widerstände kreativ warst. Du hast Deine Ideen umgesetzt und Dir ich weiß nicht wie, die Zeit herausgeschnitten, um zu malen, Deinen Schmuck zu machen oder Deine Bildhauerei. Als Kind und noch mehr als Jugendliche war ich oft neidisch und eifersüchtig, wollte Dich nicht teilen mit Deinen Vorlieben: Ich war bedürftig und wäre am liebsten Dein größtes und einziges Interesse gewesen. Dieses Muster habe ich in Künstlerinnenbiographien wiedergefunden: Enttäuschte Töchter schreiben Bücher über ihr zu kurz gekommen sein und die Künstlerinnen als Ehefrauen und Mütter haben Schuldgefühle, weil sie sich im Zwiespalt zwischen ihrer Kunst und ihren familiären Pflichten aufreiben.

Auch ich habe viel Zeit damit verbracht, Dich mit Vorwürfen zu konfrontieren und für alles Schlechte in meinem Leben verantwortlich zu machen. Lange habe ich gebraucht, um meine Lebensgeschichte „weder zu beklagen noch die Tür hinter ihr zuzuschlagen“ wie es bei AA formuliert wurde.

In mein Verhältnis zu Dir brachte Lones Geburt eine große Verbesserung, weil ich Dich viel besser verstand. Es war heilsam, selbst im „Erziehungsgeschäft“ zu sein und immer wieder an meine Grenzen zu stoßen: Die schlaflosen Nächte, das immer im Dienst sein, die Mischung aus riesenhafter Verantwortung und zwergenhafter Erfahrung. Entscheidungen treffen zu müssen, bei denen ich mir gewünscht hätte, das ginge auf Probe, um herauszufinden, was besser funktioniert, zum Beispiel bei der Wahl der Schule. Du hattest das gleich mal drei und noch dazu in kurzen Abständen. Eine Zeit lang trugen alle deine drei Kinder gleichzeitig Windeln.

Unzählige Male habe ich an Dich gedacht und mich brennend geschämt für meine harschen Urteile über Deinen Erziehungsstil, Deine Entscheidungen, Deine Ansichten und Erfahrungen.

Vieles habe ich von Deiner Art des Mutterseins übernommen: die schönen Kindergeburtstage, Lieblingsessen, wenn man krank ist, Schmusen und Kuscheln, Singen, Vorlesen, besondere Plätze besuchen, Ausflüge machen und zuhören und sich schnell wieder vertragen und auch als Mutter den Anfang dazu machen. Deine Liebe war wie die Sonne: immer da und ohne, dass ich sie mir verdienen musste. Ich gebe sie genau so weiter und ehre Dich damit.

In einem meiner spirituellen Bücher ist die Rede von „motherguilt“, Schuldgefühle, die Mütter haben. Ich kenne sie gut, fast von Anfang an. Den Druck, nichts falsch zu machen als Mutter, empfand ich als kolossal. Ich wollte eine Mutter sein, die Bescheid weiß, gut und geduldig ist, aber im richtigen Moment im richtigen Maß auch antreibt. Eine, die alle Talente des Kindes rechtzeitig erkennt und fachgerecht fördert oder fördern lässt. Ich wollte als perfekte Mutter die Bedürfnisse und Anliegen meines Kindes stets im rechten Maß berücksichtigen und immer Zeit für es haben. Eine Mutter, die es ihrem Kind leicht macht, sich zu entfalten, ausgeglichen und glücklich zu sein und seinen guten Platz im Leben zu finden. Statt der perfekten Mutter bekam Lone eine, die alkoholabhängig wurde und sich erst davon befreien konnte, als Lone schon 17 Jahre alt war.

Bei allen Ereignissen habe ich geheult: bei Lones erstem Tag im Kindergarten, bei ihrer Einschulung, beim Flötenvorspiel, beim Kinderballett, beim Übertritt auf das Gymnasium, bei Tanzaufführungen, bei ihrer Konfirmation, bei der Abifeier, bei der ersten Fahrt in ihrem eigenen Auto und so wird das wohl bleiben.

Es gab traurige Tiefpunkte in meinem Leben als Mutter. Zum Beispiel als ich ihr erklären musste, Papa und Mama trennen sich. Ich hatte schreckliche Schuldgefühle, weil ich es nicht geschaffte hatte, ihr Nest zu erhalten und sie noch so klein war. Ich fand mich egoistisch, weil ich nicht länger in der unglücklichen Ehe mit ihrem Vater ausharren wollte.

Jahre später gab es schwarze Stunden, in denen ich vollständig versagte. Meine Alkoholsucht war fortgeschritten, und mein Kind erlebte mich betrunken. Irgendwann sprach Lone mich auf mein Trinken an. Beim ersten Mal blieb ich ruhig, bedankte mich für ihren Mut und ihre Ehrlichkeit und versprach, mich zu kümmern. Beim zweiten Mal schnauzte ich sie an.

Keinen dieser Momente kann ich ungeschehen machen, keine einzige falsche Entscheidung, die ich traf, keine Verletzung, die ich anderen Menschen zufügte und kein böses Wort zurücknehmen. Ich kann heute versuchen, es besser zu machen.

Für die Genesung von meiner Sucht musste ich meine Lebensgeschichte annehmen. Das lernte ich in den 12 Schritten. Es fiel mir leichter, anderen zu vergeben als mir selbst. In der Schrittearbeit teilte ich die ehrliche Bestandsaufnahme meines Lebens mit einer Vertrauensperson und meiner Höheren Macht. Das war ein befreiender Moment: die Rüstung ablegen und mich verletzlich machen, um zu erfahren, dass mir niemand wehtut und ich nach und nach die Verantwortung übernehmen kann.

Später machte ich eine Liste der Menschen, bei denen ich eine Wiedergutmachung für nötig hielt. Bei mir standen darauf zum Beispiel mein Mann Mark, Oliver und Sabine, natürlich Lone und irgendwie auch Du Mama, nur in meinen Gedanken, nicht aufgeschrieben, da Du ja schon lange tot warst. Ich hörte, man könne auch bei Verstorbenen Wiedergutmachung leisten. Eine praktische Form sei zum Beispiel eine Spende an eine Organisation, der die verstorbene Person nahestand. Eine andere sei, geistig in Verbindung zu treten, vielleicht einen Brief zu schreiben, die letzte Ruhestätte zu besuchen oder ein Gebet zu sprechen.

Sollte ich das auch versuchen? Hatte ich Dir Schaden zugefügt und keine Verantwortung dafür übernommen?

Deinen Baum im Friedwald habe ich ein paar Mal besucht, nicht oft. Einmal habe ich Dir dabei Mark vorgestellt, meinen neuen Mann. Zu jeder Jahreszeit sieht der Wald anders aus, aber immer wunderschön. Auch Omis Asche ruht dort. Es ist gut, diesen Ort zu haben. Besonders mit Tante Ursel trauere ich gemeinsam um Euch beide. Wir telefonieren und weinen miteinander an Euren Gedenktagen. Sie ist die letzte aus dem alten Familienkreis: Aus dem Häuschen in der Gartenstraße sind außer ihr alle Älteren tot. Tante Ursel habe ich erzählt, dass Oliver und ich uns wieder vertragen, und sie hat Tränen der Rührung und Freude vergossen: „Das hätte deine Mama sehr gefreut!“ sagte sie. Und sie spricht Deinen Namen immer noch „Jo-Hanne“ aus, mit einer kleinen Pause zwischen Jo und Hanne, ich liebe das!

Ihr Toten seid unter uns. Am Anfang noch sehr präsent im Alltagsdenken und das führt zu Situationen, in denen der Schmerz explodiert. Zwei drei Mal wollte ich Dich anrufen, um Sekunden später die brutale Wirklichkeit zu realisieren: Du bist tot!  Nie mehr werden wir ein Wort miteinander sprechen.

Es gab neue Verlustmomente: Eines Tages merkte ich, dass ich die Erinnerung an den Klang Deiner Stimme verloren hatte. Wir hatten ähnliche Stimmen, sind am Telefon verwechselt worden. Was würde ich dafür geben, Deine Stimme und Dein Lachen heute noch einmal hören zu dürfen. Dann kamen die Träume mit wiederkehrenden Motiven: Du warst bei mir, aber ich konnte Dein Gesicht nicht sehen. Du warst bei mir, aber ich konnte Dich nicht anfassen. Du warst bei mir, aber ich konnte Dich nicht zum Bleiben bewegen. Auch Deinen Geruch habe ich verloren. Er war so gut und tröstlich, dass ich mich als Kind auf Dein Kopfkissen legte, wenn Du fort warst. Als ich Deine Wohnung ausräumte, grub ich meine Nase in Deine Kleider und sog ihn in mich ein. Eine Bluse habe ich mitgenommen und erst weggegeben als der allerletzte Rest Deines Duftes verflogen war.

Seit Deinem Tod gehören stumme Zwiesprachen zu unserer Verbindung. In Gedanken bringe ich Dich auf den neuesten Stand über die Ereignisse in meinem Leben. Vermisse Dich besonders bei den Meilensteinen in Lones Leben. Teile Kummer und Freude. Hatte Dich bei mir in den dunkelsten Stunden während der ersten Nächte in der Suchtklinik. Möchte Dir immer und immer wieder meinen heutigen Mann zeigen. Die Liebe meines Lebens, mein Gefährte, mein bester Freund. Dass Du Mark nicht kennengelernt hast und nicht miterleben kannst, wie gut mein nüchternes Leben heute ist und wie glücklich ich bin, darüber muss ich immer wieder von Neuem hinwegkommen.

Der letzte Satz, den Du zu mir gesagt hast, war eine Ermutigung. Ich besuchte Dich im Krankenhaus. Deine geplante Operation war gut verlaufen. Nachdem wir zusammen über die männlichen Weißkittel um Dich herum gelästert und gelacht hatten, nahmst Du meine Hand und sagtest: „Du musst da nicht bleiben, du musst das nicht machen. Du kannst ganz viel!“ Meintest Du meine dahinsiechende Ehe mit Lones Vater und wolltest mir Mut machen, meinen eigenen Weg zu gehen? So verstand ich deine letzten Worte an mich.

Ein paar Stunden später begann das dramatische Ende Deines Lebens. Du wurdest nach einem Herzstillstand zwar wiederbelebt, lagst aber im Koma. Dann kam die Diagnose: Dein Gehirn hat durch den Sauerstoffmangel große Schäden erlitten, die nicht mehr heilbar sind. Die Katastrophe war eingetreten.

Genau für so einen Fall hattest Du vorgesorgt und mir eine Generalvollmacht erteilt. Damit wurde es meine Aufgabe, Dein Sterben zu ermöglichen. Unter keinen Umständen sollte Dein Leben in so einem Fall verlängert werden, das hattest Du notariell verfügt.

In den folgenden Wochen verbrachte ich viel Zeit an Deinem Krankenbett auf der Intensivstation, und wir beide machten einen Höllenritt durch. Ich lernte besser einzuordnen, wie es Dir gerade ging, ob Du schwitztest oder nicht, ob Dein Gesicht blasser oder grauer als sonst schien. Manchmal waren Deine Augen offen, man erklärte mir, das sei der Rest von einem Wach- und Schlafrhythmus. Es kam vor, dass das Personal an Deinem Bett gedankenlos über Dich sprach oder grob mit Dir umging, dann konnte ich einschreiten und Dich beschützen, das tat gut. Die meiste Zeit bei Dir konnte ich gar nichts tun, außer einer kleinen Erfrischung der Lippen, ein bisschen Körperpflege und meine Hand unter Deine legen. So wie Du es mir einmal gezeigt hattest, damals in Deinem Haus im Schwarzwald: „Sterbende soll man nicht festhalten, ihnen nur sanft die Hand unterlegen, damit sie sich nicht allein fühlen.“, sagtest Du und hattest meine Hand unter Deine geschoben.

In endlosen Stunden sprach ich stumm mit Dir über unser ganzes Leben, bat um Vergebung, bat um Verständnis. Bat um Verzeihung, dass alles so lange dauert und Du Dich so sehr quälen musst. War auch wütend auf Dich und verzweifelt in welches grausame Dilemma Du mich gebracht hattest: Wäre ich erfolgreich, könntest Du endlich sterben, wäre ich es nicht, würdest Du gegen Deinen erklärten Willen auf unbestimmte Zeit in einem Pflegeheim vegetieren. Beides unvorstellbar. Doch noch warst Du da. Und ich war manchmal nur das kleine Kind, dessen Mama bald sterben und für immer fort sein würde.

Das erwachsene Kind war außerhalb des Krankenzimmers damit beschäftigt, die ihm übertragene Aufgabe auszuführen. Und Mama, wenn Du geahnt hättest, was das bedeutet, Du hättest mir diese Bürde niemals aufgeladen, das weiß ich. Unsere zerrissene Familie war sich nicht einig und nicht für alle war so klar, was Dein Wille und nun das richtige zu tun sei. Auch auf der medizinischen Seite war es ein Drama: Immer wieder versuchten die Ärzte, Dich von der Beatmung abzunehmen, aber Du gerietest jedes Mal in großen Stress und sie schlossen Dich schnell wieder an.

Der Tag kam, an dem die Ethik-Kommission des Krankenhauses tagte und wir als Familie angehört werden sollten. Sogar Vater kam dazu und auch Oliver unterstützte mich darin, Deinen letzten Willen, Dein Recht auf Sterben durchzusetzen. Akribisch hatte ich mich vorbereitet und mit einem Anwalt die Inhalte durchgesprochen, die ich vortragen musste. Heute weiß ich kaum mehr, was ich genau gesagt habe. Aber ich hatte Fotos von Dir dabei, und auch die Präsenz der anderen Familienmitglieder wurde wohlwollend registriert. Ein Pfleger reichte mir ein Glas Wasser. Die Stille im Raum wurde von einem Geräusch unterbrochen, das laut in meinen Ohren klang: Das Glas klackerte gegen meine Schneidezähne. Meine zitternde Hand konnte es nicht ruhig halten. Wir wurden aus dem Raum geschickt. Später teilte man uns mit, Beatmung, Ernährung und Medikation würden ab sofort eingestellt, die Verlegung ins Hospiz veranlasst.

Oliver und ich gingen in Dein Zimmer. Du warst von der Intensivstation auf eine Normalstation verlegt worden, allein in einem Raum. Endlich kam der Arzt, der die Schläuche ziehen sollte. Er zögerte. Da baute sich Oliver ihm gegenüber an Deinem Bett auf. Dein jüngstes Kind, dieser große Kerl in schwarzer Motorradkluft, machte dem unsicheren Arzt ohne Worte klar, dass jetzt Handeln angesagt ist. Man ging davon aus, dass Du ohne Beatmung schnell sterben würdest. Doch was machst Du Mama? Schnaufst aus eigener Kraft weiter, als hättest Du die ganze Zeit nichts anderes getan.

Am Wochenende kam Besuch, und wir feierten eine kleine Party an Deinem Bett. Claudia und ich pflegten und erfrischten Dich. Du hattest eine rosige Gesichtsfarbe, das einzige Mal in den vergangenen Wochen. Meine kleine Lone saß an Deinem Fußende und hatte plötzlich einen Blick unter die Bettdecke: „Mama, schau mal, Oma ist ja ein Mädchen!“

Als ich am Montag wiederkam, war Alarm: Ein Hospizmitarbeiter traf mich im Krankenhaus und riet von der Verlegung ab, Du würdest das nicht mehr schaffen und solltest besser hier bleiben in Deinen letzten Stunden. Ich rief Oliver an und blieb. Er kam zwei Stunden später mit Sabine, es war ein knallheißer Apriltag. Sie brachten ein Piccolo von der Tankstelle mit, um Deine Lippen mit etwas Besserem zu erfrischen als einem Zitronenstäbchen. So waren wir bei Dir und haben Dich bis zum letzten Augenblick begleitet: Du hast noch einmal Deine Augen geöffnet und sie dann für immer geschlossen.

Bei der Bestattung im Friedwald trug Oliver die Urne mit Deiner Asche bis an Deinen Baum. Ich sprach ein Gedicht von Else Lasker-Schüler, das sie zum Tod ihrer Mutter geschrieben hatte und es beginnt mit den Worten: „War sie der große Engel, der neben mir ging?“

Immer wieder kamen Bücher aus Deinem Nachlass zu mir, die ich zwar nicht weggeben wollte, aber auch nicht lesen. Mehrfach umgezogen und nie beachtet, bis ich auf der Suche nach einem spirituellen Text war und eins davon in die Hand nahm. Auf der ersten Seite fand ich eine Widmung von Oliver, der es Dir Weihnachten 1999 geschenkt hatte. Die Sitte, Bücher mit einer handgeschriebenen Widmung zu verschenken, habe nicht nur ich, sondern auch er von Dir übernommen. Das Buch sind Gedanken von Mahatma Gandhi, den Du verehrt hast. Die große Seele hatte einem Freund, der über den Tod seiner Frau nicht hinwegkam, zum Trost jeden Tag ein oder zwei Sätze aufgeschrieben, zwei Jahre lang. Wer von uns hat so etwas für einen trauernden Freund je getan? Sofort rief ich Oliver an. Er meinte, ich solle das Buch behalten.

Du hast immer geglaubt, Bücher kommen zum richtigen Zeitpunkt in unser Leben. Das stimmt: Ich war über ein Jahr nüchtern und arbeitete intensiv das 12-Schritte-Programm. Ich hatte mit meinen Wiedergutmachungen angefangen und suchte meinen Weg zu einem spirituellen Leben. Dabei fiel mir das Gandhi-Buch in die Hände, das seit 15 Jahren unbeachtet in meinem Besitz war. Und genauso lange hatte ich Oliver nicht gesehen. 

Jetzt kam sein Geschenk an Dich zu mir, als wir uns gerade versöhnt hatten. Mama, das war ein Moment zwischen Himmel und Erde wie er Dir gefallen hätte.

Du hast mich zur Welt gebracht und ich habe dazu beigetragen, dass Du sie verlassen konntest, wie Du es bestimmt hattest. Dabei wurdest Du in Liebe und Würde eingehüllt. Durch Deinen Tod hast Du mir die Angst vor dem Sterben genommen. Ich durfte sehen, wie Du gestorben bist und darin lag kein Schrecken. Gelernt habe ich auch etwas Praktisches: Alle in unserer Familie haben eine General- und Vorsorgevollmacht. Heute nennt man das einen „life hack“: Guten Rat fürs Leben!

Meine liebe Mama, je länger dieser Brief wird, desto mehr wächst in mir die Sicherheit, eine Wiedergutmachung braucht es nicht: Alles ist gut zwischen uns. Genau wie Lone und ich, sind auch Du und ich in Liebe verbunden – Mutter und Tochter für immer. Ich liebe Dich unendlich Mama, und ich danke Dir für alles: Du hast mir das Leben geschenkt, mich geliebt und mir Deine Liebe gezeigt, Du hast mich großgezogen und mir vieles mitgegeben, was ich erst später verstanden und schätzen gelernt habe. Dieses tiefe Verständnis voller Liebe und das Verzeihen hat lange gedauert. Es hat den Genesungsprozess gebraucht, durch den ich gehen musste, um aus meiner Alkoholsucht herauszuwachsen. Manchmal bin ich traurig über schreckliche Erfahrungen aus meiner Kindheit und ich übe, meinem inneren Kind näher zu sein. Heute habe ich das Vertrauen, auch diese Beziehung wird sich gut entwickeln.

Zum Schluss tröstet mich der Gedanke, dass Deine Gene ja nicht nur in Deinen drei Kindern, sondern auch in Deinen drei Enkelkindern lebendig sind. Auch die Deines Vaters, unseres geliebten Opas, dessen Herzenswunsch nach Kanada auszuwandern, vom Krieg zerfetzt wurde. Kanada ist das Land, in dem seine Urenkelin Frauke studiert hat und heute lebt und arbeitet. Aber das ist eine andere Geschichte. In Liebe und Dankbarkeit.

 

Liebe Leserin und lieber Leser, mit diesem Blogeintrag habe ich Dich auf die bisher längste Reise mitgenommen. Daher danke ich Dir heute ganz besonders fürs Lesen und die Zeit, die Du Dir dafür genommen hast. Und ich freue mich, wenn Du wiederkommst.

 

Alles Liebe und Gute

Juna

 

PS: Zum besseren Verständnis eine Liste der Personen: 

Oliver, mein jüngerer Bruder und Sabine, seine Frau

Lone, meine Tochter und Mark, mein Mann

Frauke und Lasse, die Kinder meines älteren Bruders

Claudia, eine Freundin

 

 

                              

Kommentare

  1. Liebe Juna. Ich danke dir sehr für diesen bewegenden Text und den tiefen Einblick in dein Leben. Deine Offenheit hat mich tief berührt. In Liebe hage-dorni

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  2. Guten Morgen liebe Juna ich bedanke mich dafür, dass du mich auf diese Reise mitgenommen hast. Ich habe dich und deine Familie,wie in einem Film gesehen,wie du deine liebe Mutter würdevoll bis zu ihrem irdischen Ende begleitet hast. Das alles werde ich noch erleben. Meine Eltern sind auch schon alt und krank und werden immer schwächer. Ich behalte einen Satz, den du von deiner Mutter gehört hast, nämlich , man soll die sterbenden nicht festhalten. Sondern ihnen zeigen,das wir in diesem schwierigen letzten Momenten präsent sind. Gute 24h🤗 D.

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