Durch's Nadelöhr bitte hier entlang - wie ich zu meiner Höheren Macht fand

 

Fred habe ich es zu verdanken: Seine Geschichte hat mein Leben verändert. Fred ist mein Zwilling aus dem Blauen Buch: Ein funktionierender Alkoholiker mit gutem Job und intakter Familie. Ein freundlicher Zeitgenosse, der darauf baut, dass man Probleme mit einer gesunden Mischung aus informiert sein, Willenskraft, Disziplin und Selbsterkenntnis lösen kann, auch sein Alkoholproblem. Freds Mischung führt aber nicht zur Lösung, sondern in einen Rückfall, aus dem er im Krankenhaus wieder aufwacht. Seine Barriere hielt eines Tages einer banalen Gelegenheit zum Trinken nicht stand. Er war auf Geschäftsreise und hatte den Gedanken, ein Cocktail vor dem Essen könne nicht schaden. Es war nicht seine erste Reise, seit er nicht mehr trank und er hatte zuvor schon Alkohol stehenlassen können. Nicht in diesem Augenblick: Er bestellte einen Cocktail und dann noch einen, nichts passierte und er trank weiter, stürzte ab in ein mehrtägiges Saufgelage. Fred erzählt später, er habe nicht einen Moment an die Folgen gedacht, ja er habe überhaupt nicht mehr gedacht und sich demzufolge auch gar nicht gewehrt. Die Sucht erwischte ihn in einem Moment, den er als "merkwürdiges geistiges Vakuum" beschreibt. Im Blauen Buch steht, manchmal habe der Alkoholiker keinen geistigen Schutz. Auch Fred nicht, das Problem hatte ihn hoffnungslos überwältigt. Sein letzter Funke Hoffnung, aus eigener Kraft nüchtern zu bleiben, war erstickt.

Mich hat diese Geschichte so mitgenommen wie kaum ein anderer Text in langer Zeit, denn ich hatte mich stark mit Fred identifizert. Wir hatten Parallelen im Leben und setzten auf dieselben Strategien: Alles, was ich in meinem Leben je hinbekommen hatte, schaffte ich mit den gleichen Zutaten wie in Freds Mischung. Und jetzt, nachdem ich seine Horrorgeschichte gelesen hatte, konnte ich nicht aufhören zu weinen, weil mir schlagartig klar wurde: Meine Stärken, meine Intelligenz, meine Willenskraft und Disziplin werden mir dieses Mal nicht helfen, nicht wenn es um meine Alkoholsucht geht. Bestimmt würde ich genauso rückfällig werden wie alle anderen, die ich kannte oder von denen ich gelesen hatte. Auch mein letzter Funke Hoffnung, es auf diese Weise zu schaffen, war erstickt.

Spätabends rief ich meine Sponsorin an und sie nahm sich Zeit, aber ich blieb für mehrere Stunden untröstlich. Ich fühlte mich hilflos, war verzweifelt und auch sauwütend, dass ich wohl auf diese Art gezwungen werden sollte, an Gott zu glauben. So am Boden zerstört war ich nicht einmal in den schlimmen Anfangstagen in der Suchtklinik ein Jahr zuvor.

Eine Nacht darüber zu schlafen, tat gut und am nächsten Tag rief ich sie wieder an. Sie half mir, zu begreifen, dass ich keineswegs an Gott glauben müsse und erklärte mir, die Erfahrung der Anonymen Alkoholiker zeige, dass es eine Macht von außen braucht, um die Alkoholsucht zum Stillstand zu bringen. Eine Höhere Macht, die das kann, was wir selber nicht hinkriegen, obwohl wir es lange und mit allen Kräften versucht haben. Genau wie ich, genau wie Fred und ungezählte Menschen, die mit ihrer Sucht ringen und immer wieder gegen sie ankämpfen, um immer wieder den Kampf zu verlieren. Das konnte ich aus tiefstem Herzen bestätigen: diesen Kampf hatte ich aufgegeben und seitdem nie wieder mit dem Gedanken gespielt, zu trinken. Ich habe viel über Suchtdruck in den Meetings gehört doch ich hatte keinen. Es ist mir unbegreiflich, aber so ist es bis heute. Das Verlangen nach Alkohol ist nicht wieder aufgetaucht, nur einmal im Traum wurde ich rückfällig.

Wo sollte der geistige Schutz herkommen? Die Höhere Macht muss nicht Gott sein, erklärte mir meine Sponsorin weiter. Das half mir, denn ich war zwar als Jugendliche eine Zeit lang in einer evangelischen Gemeinde und damals gläubig und auch konfirmiert worden. Aber spätestens mit dem Erwachsenwerden hatte sich mein Glaube an einen christlichen Gott und Jesus Christus verloren, und ich war aus der Kirche ausgetreten. Im Blauen Buch ist die Rede von Gott wie jeder Mensch Gott für sich versteht. 

Meine Sponsorin fragte mich nach eigenen spirituellen Erfahrungen. Nach spontanem Sträuben konnte ich mich darauf einlassen und begann in meinem Gedächtnis zu kramen.

Die erste Nacht mit meiner neugeborenen Tochter nenne ich ein spirituelles Erlebnis. Das Wunder dieses Kindes, das zu mir gekommen war. Eine unverletzte Seele, der Beginn eines Lebens und mir wurde anvertraut, für dieses Kind verantwortlich zu sein. Sie lag neben mir, schlief seelenruhig, und ich konnte nicht anders, als sie stundenlang zu betrachten, zart zu berühren und ihren wunderbaren Geruch einzuatmen. Ich war hellwach, und es kam mir vor, als seien wir beide die einzigen Menschen auf der Welt. Ich habe mich als Teil der Schöpfung gefühlt und vollkommen verbunden mit meinem Kind.

Ich erinnerte mich an eine Familienaufstellung in der frühen Phase meiner Schwangerschaft. Nach einer Fehlgeburt hatte ich Angst, auch dieses Kind zu verlieren. Eine Teilnehmerin stand für mein Ungeborenes und fühlte sich stark zu mir hingezogen, konnte sich nur in meiner Nähe wohlfühlen. Die Auflösung der Familienaufstellung bestand in einem Bild, das ich deutlich vor Augen habe: Hinter mir stehen meine Vorfahrinnen in einer Reihe. Miteinander verbunden, indem sie die Hände auf die Schultern der Frau vor ihnen legen: Meine Mutter, meine Großmutter, meine Urgoßmutter und vor mir kauerte die Stellvertreterin für das Kind in meinem Bauch. Ich fühlte mich vollkommen ruhig und von einer nicht zu erklärenden Kraft durchströmt. Die Stellvertreterin meines Kindes kam nach der Aufstellung zu mir, weil sie das Bedürfnis hatte, mir in ihren Worten zu sagen, dieses Kind wolle zu mir und sie sei sich sicher, so würde es geschehen. An dieses Erlebnis hatte ich viele Jahre nicht mehr gedacht. Es war tief in mir vergraben und fast neunzehn Jahre her.

Auch das Ende eines Lebens betrachte ich als spirituelle Erfahrung: Ich war bei meiner Mutter als sie friedlich starb, war dabei, als sie ihren letzten Atemzug machte und saß danach in Stille bei ihr, gemeinsam mit meinem Bruder und meiner Schwägerin. So verbrachten wir eine Stunde, und in dieser Zeit veränderte sich das Gesicht der Verstorbenen, ich empfand es, als ob ihre Seele sie verlassen hätte. 

Mit dem Besinnen auf so tiefgreifende Erfahrungen in meinem Leben, wurde mir klar, dass ich eine Fähigkeit zur Spiritualität besaß.

Das sei schon mal eine gute Ausgangsbasis, ließ mich meine geduldige Sponsorin wissen. Ich hatte den Eindruck, es sei an der Zeit, mich mal mit den Hüftumfängen von Kamelen und Durchmessern von Nadelöhren zu befassen.

Was mir auch half, war das unschlagbare Argument von Bill Wilson: "Hast du es jemals ausprobiert, so zu leben, als ob es einen Gott gebe?" Nein, seit meiner Jugend nicht, und ich musste zugeben, ein Versuch kann nicht schaden, macht nicht dick und kostet kein Geld. Und wenn es schief geht, habe ich es wenigstens versucht.

"Fake it until you make it!" heißt es bei AA und es bedeutet, so zu handeln als ob man es schon könnte, bis man es wirklich kann. Wie würde ich handeln, wenn ich mir eine Höhere Macht vorstelle, die eine weibliche Kraft ist und schöpferisch und pure Liebe? Eine unendliche, unbegreifliche Kraft, die Gutes in meinem Denken, Fühlen und Handeln, in meinem ganzen Leben bewirkt?

Also fing ich an, das Beten auszuprobieren, suchte mir Gebete, die mich ansprachen, las über Menschen wie Frère Roger und Dietrich Bonhoeffer und verwendete ihre Gebetstexte. Es war eher eine intellektuelle Übung.

Eine Freundin empfahl mir eine spirituelle Praxis des Gebets, es nannte sich Twowayprayer, und ich verpflichtete mich, es 30 Tage lang durchzuhalten. Ich brach es immer wieder ab.

Ich versuchte es auf persönliche Art und Weise und gab meiner Höheren Macht einen Vornamen, damit ich sie leichter ansprechen kann. Ein kleines amerikanisches Mädchen hörte jeden Sonntag im Gottesdienst, wie der Pastor "Howard" sagte und folgerte, das müsse der Name von Gott sein. Als Teenager fand sie heraus, es ist  der Anfang des Vaterunser. Ich fand diese Geschichte so entzückend, dass ich seitdem meine Höhere Macht Howard nenne. Zwar hatte ich immer noch keine Verbindung doch wenigstens einen Namen.

Meine Schrittearbeit ging weiter, und ich war dabei, meine Inventur zu schreiben, als ich zum ersten Mal eine Kraft spüren konnte: Mit großer Selbstdisziplin arbeitete ich jeden Tag mehrere Stunden daran, über Groll, erlittenes Leid, meine Liebesbeziehungen, meine Finanzen und meine Ängste zu schreiben. Mir kam es vor, als müsse ich nicht alleingelassen in die Tiefen meines Lebens hinabsteigen. Und mir fiel auf, ich konnte mich nach dem Zurückholen belastender Erinnerungen mit Gebeten schnell wieder von den Schatten befreien. Nach gut 10 Tagen hatte ich diese Aufgabe gestemmt. Zupass kam mir ein gebrochener Knöchel, der mich ans Bett fesselte und ich viel freie Zeit hatte. Die Disziplin und die Fähigkeit, die Lasten zu betrachten, mich aber nicht von ihnen erdrücken zu lassen: Beides schreibe ich dem Wirken meiner Höheren Macht zu.

Den 5. Schritt, der auf die Inventur folgte, machte ich mit meiner Sponsorin bei uns zuhause. Zuvor kannte ich sie nur aus Zoommeetings und vom Telefon. Es war eine große Freude, sie in persona zu sehen und zu umarmen. Alles was ich in meiner Inventur aufgeschrieben hatte, besprach ich mit ihr und wir beteten gemeinsam, was sich verbindend und organisch anfühlte. Dieses gemeinsame Gebet von uns beiden, die wir uns nicht als religiös bezeichnen, hat eine unglaublich ruhige und tiefe, stille Freude in mir ausgelöst. Die Aussprache mit ihr und meiner Höheren Macht war ein großer Schritt für mich und eine gewaltige Anstrengung. Dankbar und müde beschloss ich, erstmal eine Pause von der Schrittearbeit zu machen.

Ich nahm das Twowayprayer wieder auf und nach vielleicht 27 Tagen merkte ich, wie gut es mir tat, es jeden Tag zu praktizieren. Ich bekam Antworten, ich bekam Kraft und ich fing an, es zu wollen. Vorbei war die Pflichtübung. Viele kennen so etwas, wenn sie ein Lauftraining beginnen und irgendwann feststellen, sie müssen sich nicht länger quälen: es tut gut und macht Freude. 

Zu meinem Weg gehörte auch wieder einmal das Thema "Hilfe annehmen". Es ist ein Zeichen von falschem Stolz oder Überheblichkeit, wenn ich nicht zulassen kann, dass ich Hilfe und Trost brauche. Nicht das erste Mal, dass ich diese Hürde nehmen musste und ein Klacks verglichen mit dem Bekennen, dass ich Alkoholikerin war. Ich wurde immer mehr bereit für den Glauben an eine Höhere Macht. Sie erledigt das, wozu ich nicht fähig bin. Sie ist eine echte Hilfe und ein wirksamer Trost: Ich kann abgeben, was ich nicht tragen kann. Ich kann meinen Teil übernehmen und dann loslassen. Ich kann warten. Ich kann vertrauen. Ich muss es nicht allein schaffen. Angst verschwindet. Leichtigkeit kommt zurück.

Heute bin ich dankbar für die tägliche Verbindung zu meiner Höheren Macht, heute kann ich auch von Gott sprechen, ist kurz und einfach. Ich glaube, sie ist immer da, nur ich finde manchmal den Weg nicht. Beweise suche ich keine mehr: Wer heilt, hat Recht. Ich frage mich auch nicht, was wohl Gottes Wille sein mag. Stattdessen versuche ich daran zu denken, es geht um Liebe. Ich glaube, es geht um liebevolle Antworten auf alle Fragen des Lebens. Ganz alltäglich. Ich glaube, es geht darum, Liebe in die Welt zu tragen, in meine kleine und in die große. Und bis ich weiß, wie das wirklich geht, tue ich so als ob.

 Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst. 

 

Alles Liebe und Gute

Juna

 

PS: Ich danke meiner geduldigen und unermüdlichen Sponsorin, die mit mir den ganzen Weg durch die 12 Schritte gegangen ist und alles über Kamele weiß.

 

PPS: Wenn Du mehr über das Twowayprayer und andere spirituelle Werkzeuge wissen möchtest, lohnt es sich, hier im Archiv zu stöbern.

 

Kommentare

  1. Ich bin tief bewegt, liebe Juna. Mehr kann ich noch nicht sagen. Aber das kommt noch.
    Danke für diesen sehr persönlichen Blick.

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  2. Liebe Juna, du hast sehr ausführlich deinen Weg zur Nüchternheit und die Stationen, die du eingelegt hast berichtet. Schön ,dass ich mich in einigen Situationen spiegeln kann, so ist AA so wirkt die Medizin, Heilung durch Ansteckung. Auch wie du zu deiner Higher Power gefunden hast. Sehr beeindruckend.Gott zählt nicht unsere Fehler , sondern unsere Versuche uns zu bessern. Das gibt mir persönlich Kraft um mich weiterzuentwickeln, fortzuschreitten und dankbar jeden Tag trocken anzufangen und zu beenden. Liebe Grüße

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  3. Liebe Juna, Freds Geschichte hat mich auch sehr berührt. Auch ich war eine funktionierende Alkoholikerin. Ich hatte ALLES - Haus, Ehefrau, Hunde, Garten, Geld und noch vieles mehr was mich scheinbar halt „glücklich“ gemacht hat. Ich bin angeblich intelligent (IQ von über 140). Was hat mir das bei meinen Versuchen, nicht mehr zu trinken, geholfen? Rein gar nichts! Ich habe alles gelesen, analysiert, verstanden und ausprobiert. Trotzdem trank ich unkontrolliert weiter und konnte nicht aufhören! Erst als ich vor mehr als 2 Jahren zu AA kam und in Mini-Schritten zu einem Glauben finden konnte, wurde ich von diesem Albtraum des Trinkens befreit. Mein hochentwickelter Verstand hat das, und wie es mit dem Glauben funktioniert, noch immer nicht begriffen. Heute darf ich an Gott glauben und ich bin mir sicher, dass es da etwas gibt, das mir den Weg gezeigt hat um mir diese Last des Trinkens zu nehmen. Seit 768 Tagen musste ich nicht mehr trinken. LG, S. Vienna

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