Be brave - das dritte Jahr

Sei mutig - ich fürchte das wird ein kurzer Post. 

Jetzt bin ich in meinem dritten Jahr der Nüchternheit und versuche, dort entlangzugehen, wo die Angst noch sitzt. Da soll es spannend und lohnenswert sein, hörte ich.

Ein Angstmoment kommt mir in den Sinn: Vor vielen Jahren mit der Familie im Kletterpark. Ich stehe auf einer Plattform in 11 Metern Höhe und soll einen großen Schritt machen, um auf die nächste Plattform zu kommen. Ich bin angeseilt und sicher. Theoretisch. Die Familie ist längst weiter. Sie rufen und wollen mich ermuntern. Das Erzürnen klappt besser. Ich sehe den Abgrund unter mir und beschließe, mich nie mehr zu bewegen, nicht einen Millimeter. An mir vorbei ziehen eins nach dem andern gutgelaunte Kinder, höchstens 10 Jahre alt. Keines hat ein Problem mit dem großen Schritt. Nur ich, meine 11 Meter sind eindeutig höher als die 11 Meter der Anderen. Jede Angst lässt irgendwann nach, wenn das Adrenalin alle wird. So kommt auch bei mir der Moment, ich überwinde mich und kann weiterklettern. Aber die Freude ist weg, ich suche den schnellsten Weg raus und bin voller Scham, Ärger über mich selbst und kann keinen Stolz empfinden, dass ich es geschafft habe.

Ist es notwendig zu erwähnen, dass ich damals noch getrunken habe? Was könnte heute anders sein?

Ich könnte beten, meine Höhere Macht kann auch Kletterpark. 

Ich könnte besser für mich einstehen und sein lassen, was mir keinen Spaß macht,

Ich könnte mich weniger von der Meinung Anderer abhängig machen. 

Ich könnte dem geschulten Personal vertrauen.

Ich könnte der Sicherheitstechnik vertrauen. 

Ich könnte mir vertrauen. 

Ich könnte mich bewusst aus meiner Komfortzone hinausbewegen, weil ich es will und nicht nur mitmachen, um gut dazustehen.

Ich könnte mich annehmen als Angsthase im Kletterpark und aus Selbstmitleid, Ärger und Scham aussteigen.

Ich könnte über mich lachen. 

Ich könnte mehr Spaß haben.

Im Laufe meiner Heilungsreise habe ich immer wieder Entscheidungen getroffen, die eine Portion Mut brauchten: Mir selber zu begegnen und mich als Alkoholikerin zu outen, in die Suchtklinik zu gehen, einen neuen Arbeitsplatz anzutreten und bei Null anzufangen, in Meetings zu teilen, als Sprecherin in Meetings zu sein, Meetings zu leiten, Wiedergutmachungen zu leisten, Anliegen von Anderen freundlich und bestimmt abzulehnen, Beziehungen zu beenden, mich verletzlich zu machen, meine Fehler zuzugeben und um Verzeihung zu bitten.

Bei all diesen Schritten war Angst dabei. Trotzdem konnte ich sie gehen, denn ich hatte Hilfe und nahm sie an, ist jetzt nicht so kompliziert doch trotzdem nicht einfach. Nach jeder neuen Erfahrung war es leichter und besser. Mir wurde klar, dass ich so weitergehen möchte, genau da hin, wo die Angst noch sitzt. Zumindest mit allen zusammen, ordentlich angeseilt und am hellichten Tag.

Ich komme auf die Internetwörterbücher zurück: dort wird das englische "be brave" so übersetzt: Sei tapfer! Halte durch! Sei mutig!

Meine persönliche Übersetzung heißt: Hab Vertrauen!

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

 

Alles Liebe und Gute

Juna 

 

PS: Die wunderbare Dichterin Hilde Domin fand dieses Bild für Vertrauen: 

"Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug."

Kommentare

  1. "Meine persönliche Übersetzung heißt: Hab Vertrauen!" - das ist ein ganz wundervolle Übersetzung (oder Interpretation?!) von 'be brave', Juna.
    Das Wichtigste für mich war, um meine Angst zu überwinden, dass das Vertrauen wieder zurückkehrte. Das Vertrauen, dass meine Frau nicht trinken würde, wenn ich geschäftlich unterwegs bin. Nicht den ganzen Tag daran denken zu müssen: Wie wird das Telefonat heute Abend wohl sein? Werden wir uns unterhalten können? Bohrende Gedanken voller Angst begleiteten mich jeden Tag. Angst, mit der ich ganz allein stand. Denn da war niemand, mit dem ich diese schlimmen Gedanken teilen konnte.
    Als ich dann die erste Reise antreten durfte als sie trocken war, kamen erst all die Ängste wieder zurück. Aber ganz schnell habe ich auch das Vertrauen gespürt. Vertrauen in "Du wirst nüchtern bleiben, meine liebe Frau". Dieses Vertrauen ist gewachsen. Und seitdem komme ich mit großer Leichtigkeit von jeder Geschäftsreise wieder nach Hause.

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    1. Hi, danke für Deinen Kommentar. Es freut mich sehr, dass Deine Frau heute nüchtern ist und Dein Vertrauen zurückgekehrt ist. Du schreibst, Du warst allein mit Deinen schlimmen Gedanken. Es gibt Selbsthilfegruppen für Angehörige und Freunde von alkoholabhängigen Menschen z. B. die Al-anon Familiengruppen: https://al-anon.de/fuer-neue/ueber-al-anon/
      Hier findest Du Menschen, mit denen Du Deine Gedanken und Sorgen teilen kannst.
      Liebe Grüße

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  2. Liebe Juna. Es war wieder ein Genuss deinen Text zu lesen. So viele „wahre Gedanken“.
    Ich habe irgendwann in meinem Leben mein Urvertrauen verloren. Vermutlich schon in früher Kindheit. Jetzt bin ich auf dem Weg es mir zurück zu holen. Ich brauche sehr viel von den drei „G“ dafür. Geduld, Geduld, Geduld! Doch, es wir besser.
    Deine dankbare Leserin hage-dorni

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    1. Liebe hage-dorni, danke für Deinen Kommentar. Ich freue mich, dass Dir mein Blog gefällt. Es macht Mut zu denken, dass wir uns als Erwachsene Urvertrauen zurückholen können, wenn es auch viel Geduld braucht. Unter dem Stichwort Nachbeelterung oder Re-parenting findet man im Internet Informationen darüber, warum und wie das funktioniert. Danke für diese Anregung.
      Liebe Grüße

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  3. Liebe Juna, ich habe mir heute, nach einer turbulenten Woche und einem anstrengenden Start in den Tag, endlich die Zeit genommen, etwas für mich zu tun und mich an deine Texte erinnert. Schon die erste Überschrift, der Text und die vielen Alternativen die du, um die Angst zu überwinden, aufgezählt hast, haben mich gefesselt und ich freue mich auf den heutigen Tag und werde mit großer Interesse weiterlesen! Danke S. Vienna🙏

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