Wie geht Verzeihen? Teil 1: Mir selbst

Der achte Schritt im 12-Schritte-Programm der AA besteht daraus, eine Liste der Personen anzufertigen, denen wir Schaden zugefügt haben.

Bei Melody Beattie in „Kraft zum Loslassen“ las ich dazu einen unerhörten Vorschlag: Man solle sich selbst auf diese Liste setzen und zwar an erste Stelle, denn man habe sich selbst vermutlich am meisten geschadet.

In meinen Augen ist das revolutionär, denn ich war einen traditionellen Weg durch das AA-Programm gegangen. Dort dreht sich viel um das Zertrümmern des Egos. Die Idee, ein gesundes, sich liebendes Selbst aufzubauen, schimmert nach meinem Eindruck dermaßen sanft durch, dass ich sie kaum wahrnehmen kann.

Nun bin ich nicht Angehörige oder Freundin von Alkoholkranken für deren Anliegen Beattie ursprünglich schreibt, sondern selbst alkoholabhängig gewesen und habe Menschen verletzt. Am meisten diejenigen, die ich liebe und die mich lieben: Meinen Mann, meine Tochter, meinen Bonus-Sohn, Mitglieder meiner Herkunftsfamilie und engste Freundinnen und Freunde. Ohne Zweifel habe ich durch meine Sucht auch mir selbst geschadet und mir Verletzungen zugefügt, indem ich als Mutter, Ehefrau, Schwester und Freundin versagte.

Am Beginn meiner Genesung war ich innerlich fast vollständig aufgefressen von Angst, Scham und Schuld, hatte meine Selbstachtung verloren, war depressiv und bodenlos erschöpft – ein Bündel Elend. So wie das zusammengekrümmte, nackte Wesen aus der Szene im letzten Harry-Potter-Film, als Harry nach seinem Tod Dumbledore in einem Zwischenreich begegnet, dargestellt als der Londoner King‘s-Cross-Bahnhof. Dort liegt das Ding, das einst Lord Voldemort war. Für Harry war das Ende noch nicht gekommen, und das habe ich zum Glück mit ihm gemeinsam. Im Gegensatz zu ihm, musste ich meinen Rückweg ins Leben ohne Zauberstab bewältigen, eine Tatsache, die ich mehr als einmal bedauerte.

Für mich bedeutete dieser Weg zurück ins Leben viel mehr, als mit dem Trinken aufzuhören. Es ging darum, ein Mensch zu werden, der wieder aufrecht steht und lebendig ist, das Leben nach vorne lebt und feiert. Ein Mensch, der wieder ein zuverlässiger, aufmerksamer und liebender Part in seinen Beziehungen sein kann. Ein Mensch, der die Verantwortung für sich selbst und sein Glück übernimmt und bestmöglich für sich sorgt. Ohne dass es mir bewusst war, ging es auch darum, ein Mensch zu werden, der sich selbst liebt. Dabei sind Irrtümer nicht ausgeschlossen. Aber es gibt wiederkehrende Chancen zu lernen und zu versuchen, es besser zu machen.

Das verträgt sich nicht mit Selbsthass, Minderwertigkeitsgefühlen, Scham, Schuld und Lebensangst. Da braucht es nach meiner Erfahrung einen Weg des Verzeihens: Ich verzeihe mir selbst und den anderen, bevor ich schließlich um Verzeihung meiner Fehler bitten kann.

Wie geht das praktisch? Leider kann ich keine konkrete, von mir erprobte Anleitung geben.

Meine Selbstverzeihung fuhr auf der Genesungsreise als blinde Passagierin mit, die bei gutem Wetter auftauchte und mich freundlich begrüßte.

Hilfreich war die Einsicht, dass es keine Schande ist, Hilfe zu brauchen, und ich aus eigenem Antrieb in die Suchtklinik ging, endlich bereit, auch unbequeme Unterstützung anzunehmen und meine Nüchternheit an erste Stelle zu setzen. So wie im Bild von den herabstürzenden Sauerstoffmasken im Flugzeug: Zuerst versorgen wir uns selbst und erst dann die anderen.

Nach und nach konnte ich besser schlafen. Mit der wachsenden Ruhe kam mein Gedankenkarussell in langsamere Drehungen, und das nahm den Selbstvorwürfen an Schärfe.

Es half auch, dass ich mit der Zeit meine Fortschritte erkennen konnte, zum Beispiel meine Abstinenz zu halten und die richtigen Schritte zu gehen: Nachsorge nach dem Klinikaufenthalt durch eine Psychotherapeutin bei mir vor Ort und Nachsorge bis heute durch den Besuch meiner Selbsthilfegruppe. An meinem neuen Leben zu bauen, meine größte Belastung zu entfernen und eine neue Stelle anzutreten.

Zur Erleichterung meiner Seelenlast trug der Begriff von Sucht als Krankheit bei: Mein freier Wille war zeitweise nicht mehr existent, und ich hatte mich in meiner Persönlichkeit sehr negativ verändert. Ich lernte mehr über die Krankheit wie sie heute gesehen wird, gekennzeichnet durch Veränderungen im Gehirn, die nachweisbar sind. Sie betreffen unter anderem die Steuerungsinstanzen aber auch das immer gieriger werdende Belohnungszentrum. Das sind Folgen des Trinkens, die auf die Vergiftung der Nervenzellen zurückzuführen sind und nicht darauf, dass ich als Mensch ein schlechter Charakter wäre. Das Gute daran ist, dass auch mein vom Alkohol beeinträchtigtes Gehirn lernfähig bleibt und ich aus meiner Sucht durch Lernen von neuen Verhaltensweisen und guten Gewohnheiten herauswachsen kann.

Mein Vertrauen in mich selbst wurde größer und wie ein quicklebendiger Schleimpilz breitete es sich in alle meine Lebensbereiche aus. Die Erfahrung, aus meinen Fehlern zu lernen und neuen Herausforderungen anders zu begegnen als durch Betäubung mit Alkohol, half mir dabei, Schuldgefühle loszuwerden. Ich hatte jetzt eine Wahl und handelte nicht mehr unter dem Zwang einer Sucht. Das sorgte für viele Glücksmomente. Ich nehme stark an, dass ein Schleimpilz nicht glücklich sein kann, aber ich muss sagen, genau so denke ich ihn mir, seit ich ihn in einer Doku im Zeitraffer wachsen gesehen habe. Zugegeben ist er nicht ganz so kuschelig wie ein Hundebaby aber dafür lässt er sich durch nichts aufhalten und ist genial im Überwinden von Hindernissen.

Im Lauf der nüchternen Monate konnte ich sehen, meiner Familie ging es besser. Die Tage meiner Abstinenz reihten sich aneinander, was ich in einem Kalender mit grünen Punkten darstellte, gut sichtbar auch für sie. Meine Lieben merkten, dass ich wieder voll und ganz da war. Stück für Stück bekamen sie mich zurück: Jederzeit ansprechbar, erreichbar, verlässlich und zugewandt: Vertrauen und Leichtigkeit kehrten wieder. Ich war auf dem richtigen Weg und die guten Wirkungen zeigten sich. Auch das war eine große Hilfe dabei, mir meine Fehler zu verzeihen.

Nach mehr als einem Jahr Nüchternheit und intensiver Arbeit im 12-Schritte-Programm war es so weit: Meine liebe, blinde Passagierin kam zu mir auf die Brücke und half mir bei meinen Wiedergutmachungen. Ich hatte mir verziehen und war bereit geworden, anderen zu verzeihen. Ohne diese neue innere Haltung, hätte ich manche Person auf meiner Liste nicht um Verzeihung bitten können. Meine Familie ausgenommen: Von ihr hatte mich niemand verletzt, ihr musste ich nicht zuvor vergeben. Bei ihr hatte ich vor allem mir selbst zu verzeihen und Tag für Tag Sicherheit aufzubauen. Bislang endeten alle meine Wiedergutmachungen damit, dass mir verziehen wurde. Diese Erfahrungen waren wie eine Einladung zum Kapitänindinner für meine blinden Passagierin, und sie hat nicht nur vornehm gekostet, sondern sich richtig den Bauch vollgeschlagen.

Der Prozess, mir selber zu vergeben und zu lernen, mich selbst zu lieben, ist nicht abgeschlossen und wird noch eine schöne Beschäftigung für's Alter. In vielen Twowayprayers habe ich dazu Fragen an meine Höhere Macht gestellt. Ihre Art, mich und mein Leben zu betrachten, hat mir sehr geholfen: Voller Liebe, Kraft, Geduld und Weisheit, bestärkend und aufbauend, niemals anklagend oder gar strafend. Wenn sie mich so sieht, will ich das auch versuchen, immer wieder von neuem.

Die ehemals blinde Passagierin hat eine Deckkabine mit Panoramafenstern bekommen, damit ihr nichts entgeht, wo Selbstverzeihung gefragt ist und dafür bin ich ihr sehr dankbar.

Dir danke ich fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

 

PS:  Gegen Schuldgefühle hilft mir dieser Gedanke, ein abgewandeltes Zitat von Maya Angelou:

Tu dein Bestes, bis du es besser weißt. Wenn du es dann besser weißt, mach es besser.

PPS: Wenn Du einen Weg gefunden hast, Dir selbst zu verzeihen, dann hinterlasse gerne einen Kommentar oder schreibe mir bitte, was Dir hilft. Mail an: sixtydays@posteo.de

  

Kommentare

  1. Deinen neusten Post, liebe Juna, habe ich nun mehrfach gelesen und bin noch immer zutiefst berührt. Und damit auch noch etwas sprachlos, da Deine Gedanken und Gefühle, die Du hier geteilt hast, so viel in mir bewegen.
    Sich selbst verzeihen, als ein zentraler Punkt, um anderen verzeihen zu können. Klingt einfach und logisch - und doch ist es schwierig. Da hilft Dein Bild der blinden Passagierin so gut. Danke. Mal sehen, ob wir später nochmal von ihr lesen werden was sie so aus ihrem Panoramafenster alles gesehen hat :-)

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  2. Danke für den wirklich sehr zum Nachdenken anregenden Beitrag. Mir selbst zu verzeihen fiel mir sehr schwer und ich bin immer noch nicht vollständig fertig damit, wenn ich an mich als Mutter denke. Geholfen hat mir hier eine Stelle bei Winnicott: er meint, es sei ausreichend, wenn die Mutter es "hinlänglich gut" mache. "Hinlänglich gut" finde ich so hilfreich und tröstlich, es erlöst vom Anspruch auf Perfektion, die man sowieso nie erreichen kann. Es hilft nicht nur in Bezug aufs Muttersein, es lässt sich auf alle Lebensbereiche anwenden. Für mich als Alkoholikerin ist es sehr wichtig, mich in meinem Verhalten realistisch einzuschätzen und zu erkennen, dass ich, so wie alle Menschen, Fehler mache und dass das dazugehört. Dadurch wird es auch leichter, mir und anderen zu verzeihen. Für mich war das Aussprechen meiner Fehler einer vertrauenswürdigen Person gegenüber sehr wichtig. Dadurch habe ich die Verantwortung für sie übernommen. Danach konnte ich über Wiedergutmachung nachdenken und tun, was nötig schien. Auch im Heute ist das wichtig, denn natürlich mache ich immer noch Fehler, genau wie die anderen. Und zur Vermeidung von Groll gehört für mich das innere Anerkennen, wenn nötig, das An- und Aussprechen unbedingt dazu. Am Verzeihen muss ich mehr oder weniger arbeiten 😊. Und wenn doch Schmerz und Scham bleiben, versuche ich das zu akzeptieren und als Teil meiner Lebensgeschichte zu verstehen.
    Kennst du Annie Ernaux? Ich habe mit großem Gewinn ihr Buch "Scham" gelesen und dabei wieder was gelernt.
    Nochmal vielen Dank und gute 24 Stunden.

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    1. Das Wort von Winnicott kenne ich gut und finde es sehr gut, leider waren meine Unsicherheit und mein Anspruch es auf jeden Fall besser zu machen, als meine Mutter, hohe Hürden, zu hoch als dass Winnicotts Weisheit mich wirklich erreicht hätte. Noch immer neige ich dazu, jede Störung im Gefühlsleben meiner Tochter und eben alles, was nicht so recht klappen will, auf meine Erziehungsfehler, auf meine eigene nicht unbeschädigte Persönlichkeit (die es ja sowieso nicht gibt) und natürlich auf mein Trinken zurückzuführen. Da bin ich froh um mein Twowayprayer, wo ich alle meine Themen Gott hinlegen kann. Das hilft sehr, um immer mal einen Stein aus meinem Rucksack rauslegen zu können.
      Ich danke Dir auch, dass Du eigenen Erfahrungen mit dem Verzeihen mitteilst. Die Bedeutung des 5. Schritts: durch das Aussprechen gegenüber einer anderen Person, das erste Mal Verantwortung zu übernehmen. Und dann der Hinweis auf das Akzeptieren: Was immer noch an Schmerz und Scham bei einem bleibt, als Teil der Lebensgeschichte zu verstehen. Das ist heilsam und klug, klingt einfach und ist doch so schwer. Um das Buch von Annie Ernaux werde ich mich bemühen. Danke, ich freue mich sehr etwas kennenzulernen, das geholfen hat.

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