Be kind - das zweite Jahr

 

Internetwörterbücher bieten mir für das englische Adjektiv „kind“ diese Übersetzungen an: freundlich, nett, liebenswürdig, herzlich, gütig und noch ein paar mehr. Freundlich und nett war ich meistens. Auf mein gutes Benehmen in der Öffentlichkeit legte ich Wert und wollte in keiner Weise negativ auffallen.

Gütig zu sein, fiel mir immer schwerer, je schlimmer meine Sucht wurde. Deshalb ist „gütig“ die Übersetzung, mit der ich arbeiten möchte.

Für mich braucht Güte als Grundlagen Ausgeglichenheit, Großzügigkeit, Nachsicht und das Vertrauen, ich bekomme alles, was ich benötige. Kaum etwas davon besaß ich noch gegen Ende meines Trinkens, denn ich hatte es mit unzähligen Flaschen Weißwein überschwemmt. Die Sucht hatte mich als Mensch verändert: Ich war voller Angst, depressiv, misstrauisch, hasste mich selbst, war wütend, innerlich geschrumpft und bodenlos erschöpft.

Im zweiten Jahr meiner Nüchternheit arbeitete ich in den 12 Schritten weiter. Dieser innere Heilungsprozess förderte meine Fähigkeit, gütig zu sein, langsam wieder zutage. Dafür gibt es ein Beispiel aus meinem Familienleben.

Als eine von acht aufgeregten Müttern habe ich unter Corona-Bedingungen versucht, die Abifeier mit zu organisieren. Ich hasse so was: immer sind es Dieselben, die was machen, während die Anderen sich schön raushalten. Dann dieser ganze Ärger mit all den Vorschriften, die wir nicht verstanden und die sich dauernd änderten. Dann diese unmöglichen Mütter mit ihren festgefahrenen Meinungen. Die betonköpfige Schulleitung, der wachsende Zeitdruck und so weiter und so fort. So grummelte es in meinem ärgerlichen Nörgelhirn. 

Eine ganz Pingelige wollte sogar, dass ich zunächst eine Probetasse bestelle, bevor wir die Tassen für den ganzen Jahrgang besorgen mit Abispruch, Logo und Namen darauf. Na also, wenn man keine anderen Sorgen hat.

Ärger, Groll, und selbstgerechte Empörung das sind alles Alarmzeichen. Früher habe ich sie nicht erkannt oder missachtet. Heute kann ich das besser und mir fiel ein, dass ich eine neue Kraftquelle in meinem Leben habe. Ich brachte das Problem in mein Twowayprayer am Morgen.

Danach konnte ich erkennen, dass wir alle ein gemeinsames Ziel haben: Eine schöne und sichere Feier für unsere Kinder. Ich begriff, dass die scheinbar pingelige Mutter nur ein wirklich gelungenes Geschenk für unsere Söhne und Töchter wollte, und das konnte ich leicht respektieren. Ich konnte mich in die schwierige Rolle der Schulleitung hineinversetzen, die für die ganze Schule die Gesamtverantwortung trägt und zwar auch für die restlichen beiden Schulwochen, wenn die Abiturienten weg sind. Und ich konnte aussteigen aus dem Gefühl, die Arbeit sei ungerecht verteilt.

So wurde ich bereit, in den Videokonferenzen liebevoll, geduldig und nicht kritisierend zu sein, ehrlichen Respekt für die anderen Mütter zu empfinden und jede Aufgabe zu übernehmen, die keine andere haben wollte. Ich konnte auch gelassen bleiben und jene beruhigen, die fürchteten, wir bekämen zu wenig Unterstützung von den anderen Eltern.

Am Schluss rüttelte sich alles zurecht. Wir bekamen jede Hilfe, die wir brauchten. Die Feier war gelungen, festlich, lustig und voller Liebe. Eine der Mütter schlug vor, wir könnten uns doch mal auf einen Kaffee treffen, weil wir alle zusammen es so gut hingekriegt haben. Haben wir aber nicht gemacht, ist ja das wirkliche Leben und keine Netflix-Serie mit starker weiblicher Hauptrolle. 

Mir zeigt diese Lernwerkstatt, was Genesung bedeutet: Ich habe zwar immer noch die gleichen Gefühle und krausen Gedanken, aber ich habe eine Wahl, wie ich mit ihnen umgehen möchte. Durch meinen Zugang zur Spiritualität stehen mir neue Kräfte zur Verfügung. Ich kann einen anderen Blickwinkel einnehmen, ich kann Vertrauen üben. Vertrauen in meine eigenen Stärken und die der Anderen. Vertrauen in meine Höhere Macht und in das Leben selbst. Das schafft bei mir Raum für Großzügigkeit, Nachsichtigkeit und gibt mir die Möglichkeit, eine Runde Güte zu üben, nur so im Kleinen. Es wird noch soweit kommen, dass ich jemandem die letzte Parklücke am Supermarkt überlasse.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

PS: Ich wurde gefragt, was das Twowayprayer sei. Das erkläre ich demnächst an dieser Stelle.


Kommentare

  1. Wie immer toll geschrieben. Auch so kann man sein Leben positiv verändern, einfach mit der Sichtweise der Dinge....
    von unten sieht es immer anders aus als von oben...
    😍

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  2. In Deinen Tags hast Du "selbstgerechte Empörung" aufgenommen. Was für eine treffender Begriff für die Gedanken, die Du in Deinem Text beschrieben hast.
    Wenn ich in mein Leben und mein Kollegium reinsehe, dann könnte ich jeden Tag mehrere Seiten füllen, die ich mit dieser Überschrift betiteln würde. So oft begegnet es mir - so oft habe ich es auch selbst getan. Und bin auch sicherlich heute nicht frei davon. Nur hieß es bisher bei mir nicht so entblößend, sondern es war natürlich eine gerechtfertigte und berechtigte Empörung. Mit dem Blickwinkel, den Du aufzeigst, will ich mir das (noch mehr) zu Herzen nehmen: denn es ist doch allzu oft (oder immer?!) eine selbstgerechte Empörung.
    Und mit mehr Güte und Gelassenheit kann ich das wohl erkennen.
    Danke für den Gedanken - das nehme ich gerne in mein tägliches Lernabenteuer der Teams-Video-Konferenzen :-)

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