Aus der Werkzeugkiste - Das Twowayprayer


 

Das 12-Schritte-Programm, durch das ich gegangen bin, basiert auf Spiritualität, es betont die Bedeutung von Gebet und Meditation und fordert auf, sich Gott anzuvertrauen. Die Geschichte, wie ich es geschafft habe, mich durch dieses Nadelöhr zu zwängen, erzähle ich ein anderes Mal.

Sich Gott anzuvertrauen, einer Vorstellung von Gott, wie ich ihn oder sie oder es verstehe. Dieser kleine Nebensatz: wie ich Gott verstehe, ist der klügste, den ich je gelesen habe. Denn er lässt Raum für alle Menschen: Für manche ist es eine religiöse Vorstellung, sie glauben zum Beispiel christlich. Für andere ist es der fast magische Prozess in der Selbsthilfegruppe, wenn Menschen aus ihrer Sucht herauswachsen. Für mich ist es die Vorstellung von einer unbegreiflichen Kraft, die nur Liebe ist, vielleicht eine weibliche Energie.

Clare Pooley, eine englische Autorin, erklärte in einem Interview, für sie sei es weniger bei Gott als vielmehr im Internet gewesen, wo sie ihre Antworten fand, als sie aufhörte zu trinken.

Gerade gestern hörte ich wieder jemanden sagen: „Alles, was du über Gott wissen musst, ist: Du bist es nicht!“ Darüber muss ich immer wieder lachen. Dieser Satz ist klug und befreiend.

Für mich ist diese Liebe eine Quelle, aus der ich schöpfen kann, so oft und so viel ich möchte. Verbindungswege sind das Gebet und mein Morgenritual, das Twowayprayer: two way, weil es wie ein Zwiegespräch ist. Ich stelle meiner Höheren Macht eine Frage, schreibe sie auf und notiere alles, was mir in den Sinn kommt. Ich überlege nicht, ich werte nicht, ich schreibe nur so lange alles auf, bis nichts mehr kommt.

Dann hinterfrage ich die Antworten. Sind sie ehrlich, liebevoll, selbstlos und nicht durch andere Motive verschleiert? Wenn sie so sind, nehme ich an, sie kommen von meiner Höheren Macht und versuche, sie umzusetzen. Darin bin ich nicht immer gut und konsequent. Manche vergesse ich über den Tag oder schiebe sie auf. Wenn sie anders klingen, sind es wohl nur meine eigenen Gedanken. 

So habe ich es am Anfang gemacht. Inzwischen bin ich dazu übergegangen, dass alles, was liebevoll, gütig, weise, auf Versöhnung und Heilung ausgerichtet, bestärkend, aufrichtig und geduldig klingt, wert ist, ernsthaft ausprobiert zu werden.

Das Wort „Gott“ ist für mich die Abkürzung für Höhere Macht, Universelle Kraft, Kraft der Liebe, Göttin und die weibliche Energie, die ich mir vorstelle. Die Frage, ob die Antworten wirklich von meiner Höheren Macht kommen oder doch nur Spiegelungen meiner eigenen Gedanken sind, stelle ich mir heute nicht mehr. Für mich zählen die positiven Auswirkungen in meinem Leben.

Meine praktische Anleitung für das Twowayprayer:

Es braucht einen dafür reservierten Ort: Bei mir ist das ein kleiner Tisch. Darauf liegt das Buch, das ich dazu lese, wenn möglich Blumen, daneben eine Postkarte mit einem Tier, beides erinnert mich an die Schöpfung. Auf dem Tischchen liegen meine beiden Münzen für ein und zwei Jahre Nüchternheit und ein herzförmiger Stein, Geschenk einer Freundin. Erinnert mich an Beziehungen. Und eine Kerze, auf Reisen auch ein Teelicht. Steht für Licht im Dunkel.

Es braucht Werkzeug: Ein Notizbuch oder Schulheft oder ähnliches und ein Stift sollen bereitliegen.

Ich brauche Musik: Zu Beginn dieses Morgenrituals höre ich ein paar Minuten Musik, die meine Seele beruhigt. Für mich sind das Gesänge aus Taizé. Denkbar ist jede Musik, die diesen Zweck erfüllt. Wenn das Lied zu Ende ist, beginne ich zu lesen.

Es braucht einen Text: Er ist der Wegweiser, damit die Gedanken eine Richtung finden. Zur Zeit lese ich ein Buch mit täglichen Meditationen für Frauen.

Das Schreiben beginnt: Ich fasse den Text kurz zusammen und stelle einen Bezug zu mir selbst her. Daraus leite ich meine Frage an Gott ab. Oder ich habe schon eine Frage, weil zum Beispiel ein wichtiges Ereignis bevorsteht, eine herausfordernde Aufgabe im Beruf, ein vermutlich schwieriges Gespräch oder ein vollgepackter Tag (Zitat Martin Luther: „Ich habe heute viel zu tun, darum muss ich heute viel beten.“).

Ich rede Gott persönlich an. Da es mir in der Anfangszeit schwerfiel, eine persönliche Verbindung aufzubauen, habe ich Gott einen Vornamen gegeben. Ich schreibe meine Frage auf und alles, was mir danach in den Sinn kommt. Wenn nichts mehr kommt, höre ich auf. In Ruhe lese ich durch, was ich aufgeschrieben habe. Ich bedanke und verabschiede mich, auch das in schriftlicher Form. Ich ende mit einer Schlussformel, wie eine liebende Kraft sie für mich formulieren könnte. Dann bete ich.

Das Gebet: Ganz oft das Gelassenheitsgebet in der längeren Form oder Gebete, die mir Freundinnen geschickt haben oder Gebete, die ich vorgefunden und für mich passend umgeschrieben habe. Gebete haben eine gute Heilhaut: Man kann sie verändern, ohne dass sie verlieren, so meine Erfahrung. Mir hilft es, das Gebet laut zu sprechen. Genau wie bei Affirmationen, gibt es mir mehr Kraft, wenn ich meine Stimme die Worte sprechen höre. Manchmal bete ich auch für andere Menschen. Ich will ihnen damit etwas Gutes tun, dabei hilft es mir selbst. Denn ich kann den Tag mit dem Gedanken beginnen, etwas für eine andere Person getan zu haben.

Der Schluss: Ich puste die Kerze aus und gehe aus dem Zimmer in meinen Tag: Entspannt und mit großer innerer Ruhe, gleichzeitig hellwach und konzentriert. Und ich fühle das Lächeln auf meinen Lippen – meistens.

Der Vertrag: Es wird empfohlen, sich für 30 Tage innerlich zu verpflichten, wenn man mit dem Twowayprayer anfangen möchte. Lässt man einen Tag aus, beginnt das Zählen wieder bei 1. Den Zahlenraum bis 10 habe ich gründlich beackert. Aber irgendwann war ich bei Tag 26 oder 27 als es Klick machte: Mein Morgenritual begann mir wichtig zu werden, weil es sich so gut anfühlte. Es half mir wunderbar in meinen Tag. Ich fing an, es zu wollen. Damit war die neue Gewohnheit in meinem Leben eingerichtet. Das ist ungefähr 15 Monate her. Es gibt Tage, an denen komme ich nicht dazu oder ich habe es auch schon mal nachmittags nachgeholt, was jedoch nicht denselben Effekt hat. Nicht schlimm. Wenn es wieder geht, schwinge ich mich wieder ein. Inzwischen sind es mehrere Notizbücher, in denen Weisheit steckt (ein starker Hinweis darauf, es können nicht meine eigenen Ideen sein) und die meine Veränderungen und Genesungsschritte dokumentieren. Da ich vergesslich bin, sind sie von großem Nutzen für mich. Sie werden mich daran erinnern, wo ich herkomme, sollte mein Kopf mir eines Tages senden, das sei doch alles nicht so schlimm gewesen, und ich könnte gelegentlich ausprobieren, ob das Trinken wieder funktionieren würde.

Für mich gibt es ein Leben mit Spiritualität und eins ohne in der Zeit davor. Das jetzige ist für mich das bessere, ehrlich gesagt, das beste Leben, das ich je hatte, denn ich bin nüchtern und frei. Deshalb kann ich es mir heute leisten, toleranter gegenüber spirituellen oder gläubigen Menschen zu sein. Und ich kann es mir leisten, respektvoll von ihnen zu lernen.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

 

 PS: Wer sich über die Ursprünge des Twowayprayer informieren will oder sich für einen Workshop (in englischer Sprache) mit Father Bill interessiert, findet hier den Link: https://www.twowayprayer.org/  Er ist ein amerikanischer Pastor, der vor vielen Jahren selbst alkoholabhängig war. Father Bill macht leicht umsetzbare Vorschläge und regt die Menschen an, ihre Twowayprayers zu teilen. Dazu gibt es auf youtube Videos zu sehen. 

Das Meditationsbuch für Frauen heißt: „Die Kraft zum Loslassen“ und ist von Melody Beattie geschrieben worden. Es enthält einen Text für jeden Tag des Jahres und eine Affirmation dazu. 

PPS: Es wird einen Post über Gebete geben. Schick mir gerne Dein Lieblingsgebet. Oder auch sehr gerne ein Gebet, das Du für Dich umgeschrieben hast, mit Vorher-Nachher-Version.  Mail an: sixtydays@posteo.de


 

 

Kommentare

  1. so toll geschrieben! Danke dir liebe Juna! es war mir eine echte Inspiration. Ich habe immer noch schwieriglkeiten mit der Morgenroutine. Du Erklärst es richtig gut und liebevoll! Nochmal danke dafür!

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  2. Liebe Juna, Dein Schreiben zum TWP hätte ich mal vor dem 1. Kontakt mit diesem Werkzeug lesen sollen. Ich konnte es leider nur auf dem Handy lesen, muss noch downloaden und würde es natürlich gerne dies meinen Sponsees schicken. Liebe Grüße

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  3. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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  4. Liebe Juna, es hat mir sehr gefallen,was du geschrieben hast, sehr ausführlich.Das Buch "Kraft zum loslassen" hat mir im Jahr 2007 eine Freundin geschenkt. Es hat mich oft in schwierigen Situationen begleitet und hat seinen festen Platz in meinem Buchregal. Ich habe dazu passend auch das Buch von Louise L.Hay You can heal your Life. Schon damals(2009) als ich dieses Buch kaufte, ahnte ich, dass mein Problem eine fortschreitende Krankheit ist, wollte oder konnte aber nicht aufhören zu saufen. Gute 24 h🙏🐪😘 liebe Grüße

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  5. Danke Juna für diese ausführliche Anleitung zu deiner Morgenroutine.
    Jetzt kann ich/Frau einfach anfangen.
    Danke auch, dass du das Wort GOTT auf so schlichte Weise aus der Religionsdiskussion entfernst und zur spirituellen Quelle für jedermann erhebst.
    Es gefällt mir auch gut, dass du schreibst, was es dir an gutem in deinem Leben gebracht hat.
    Sehr hilfreicher Beitrag - ❤️

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