Be sober - das erste Jahr

 

Be sober - be kind - be brave: Sei nüchtern, sei gütig, sei mutig - diesen Spruch habe ich in einem Interview gehört und auch die Idee, ihn auf die ersten drei Jahre der Abstinenz anzuwenden.

In meinem ersten Jahr ging es hauptsächlich um das Nüchternsein

In unserem Haus fühlte ich mich sicher, denn es war frei von Alkohol. Bevor ich in die Suchtklinik fuhr, hatte ich alle Flaschen, die ich fand, ausgeschüttet und zum Glascontainer gebracht. Es war befreiend, wie Ausmisten mit Marie Kondo, vielleicht etwas weniger glamourös. Immerhin war es nicht nötig, mich zu fragen, ob meine Weinflaschen mich noch glücklich machten: Das Gegenteil war bewiesen.

Doch wenn ich meine Trutzburg verlassen wollte, musste ich Sicherheitsvorkehrungen treffen und zum Beispiel die ersten Einkäufe im Supermarkt  in Begleitung meines Mannes machen. Später in der Selbsthilfegruppe bekam ich mit, dass man sich am Telefon beim Einkaufen begleiten lassen kann. Ich habe auch einmal einer Freundin ein Ohr geliehen, damit sie an der Kasse mit den kleinen Schnapsfläschchen gut vorbeikam. Hier bekommt der „personal shopping assistant“ eine ganz neue Bedeutung.

Da ich nicht versehentlich Alkohol in Lebensmitteln zu mir nehmen wollte, musste ich für's Einkaufen viel mehr Zeit einplanen, um die Mikroschrift auf den Verpackungen lesen zu können. Und es gab echte Ãœberraschungen: In Pizzateig aus dem Kühlregal oder italienischem Salzgebäck hatte ich Alkohol nicht erwartet. Ich fand das nervig und anstrengend, wurde aber von meinem Selbstmitleid kuriert, als ich mitbekam, wie eine Freundin für ihr Kind einkauft. Der kleine Junge hat eine Krankheit, die von einer Nahrungsmittelunverträglichkeit herrührt. Die Mutter prüft jedes Lebensmittel, das sie zum ersten Mal kauft, mithilfe einer App, um sicher­zugehen, dass die gefährliche Zutat nicht enthalten ist.

Die Entdeckung der leckeren alkoholfreien Getränke war neu für mich und der Spaßanteil am Einkaufen. Aber ich blieb bei Säften und Limonaden. Die sogenannten alkoholfreien Varianten von Wein, Sekt oder Bier ließ ich stehen und das mache ich bis heute: oft enthalten sie doch geringe Alkoholmengen, und ich will nichts trinken, was meinem Suchtstoff auch nur ähnelt.

In der Klinik hatte ich Rüstzeug für den nüchternen Alltag bekommen. Mit meiner Therapeutin hatte ich einen Notfallplan entwickelt, sollte ich einen Rückfall haben. Ich wusste von Hilfen gegen Suchtdruck. Und ich bekam Nachsorge mit Psychotherapie und einer Selbsthilfegruppe, beides zunächst nur virtuell. 

Als ich aus der Klinik kam, war gerade der erste Lockdown. Alle sozialen Kontakte waren stark eingeschränkt, und es gab keinerlei Einladungen oder Zusammenkünfte, bei denen ich hätte Alkohol ablehnen müssen. Für mich war das eine Hilfe in der ersten, sehr unsicheren nüchternen Zeit.

Auch in anderer Hinsicht tat mir die Isolation gut: Ich hatte Entzugserscheinungen zu überstehen wie Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen. Es ging mir oft schlecht. Ich war voller Angst und Scham und immer noch geschockt davon, alkoholsüchtig geworden zu sein. Abgeschieden und noch nicht wieder arbeitsfähig konnte ich innerlich heilen, ohne gleichzeitig nach außen vertuschen, locker und souverän wirken zu müssen.

In den ersten Wochen und Monaten zuhause erschien mir das Nüchternsein wie eine Ganztagsbeschäftigung. Über meine vielen Aktivitäten führte ich einen Kalender, denn ich versuchte alte, schlechte Gewohnheiten gegen neue, bessere zu ersetzen. Da trug ich mein Befinden ein, ob ich geschlafen hatte, ob ich körperlich aktiv war, meine Entspannung geübt hatte und ob ich an meinem neuen Leben gebaut hatte, eindeutig meine Lieblingskategorie: Dort hinein gehörte der Besuch der Selbsthilfegruppe, meine Therapiesitzungen, alle meine Anstrengungen rund um den Arbeitsplatzwechsel, aber auch Telefonate mit neuen Freundinnen. Hier vermerkte ich auch Gespräche mit alten Freunden und Familienangehörigen, die bis dahin nichts von meiner Sucht mitbekommen hatten.

Der Wechsel meines Arbeitsplatzes war der krasseste Einschnitt in meinem ersten Jahr. Grundsätzlich wird von so weitreichenden Entscheidungen in der ersten Zeit der Nüchternheit abgeraten. Aber meine Therapeutin in der Klinik und ich kamen zu dem Schluss, ich würde meine Abstinenz nicht halten können, wenn ich in mein altes Arbeitsumfeld zurückkehrte. Zum Glück bekam ich viel Unterstützung und musste nie mehr einen Fuß dahin zurück setzen. Vier Monate später konnte ich eine neue Stelle antreten und in Teilzeit arbeiten. Ohne meine Suchterkrankung hätte ich mich zu diesem großen Schritt wohl nicht entschieden.

Und meine Entscheidung hatte eine wundervolle Nebenwirkung: Wir hatten endlich Zeit für einen Hund und entschieden uns für einen Welpen. Er ist ein wirksames Antidepressivum in weiches Fell verpackt und hat eine unmittelbare Heilwirkung auf unsere ganze Familie.

In mein erstes Jahr gehört auch, dass ich mich als Alkoholikerin identifizierte und meine Machtlosigkeit dem Alkohol gegenüber zugab. Mich selbst mit diesem schrecklichen Begriff zu belegen, das war die größte Kröte, die ich schlucken musste. Zugegeben, ich hatte ein Alkoholproblem, aber Alkoholikerinnen, das waren die anderen, die Kaputten unter der Brücke. Ich hatte meine Arbeit und meine Familie und ein funktionierendes Leben, oder nicht?  

Heute weiß ich wie falsch und gefährlich dieses Klischee ist: Ich hatte es benutzt, um meine vollständige Krankheitseinsicht noch hinauszuzögern und damit meinen Ausstieg aus der Sucht. Selbst Profis in der Suchthilfe oder Medizin sind nicht immer ganz frei davon, die Gruppe der noch funktionierenden Alkoholiker für gesünder zu halten als sie ist. Die Menschen, die aufgrund ihrer Sucht öffentlich auffallen, sind eine viel kleinere Gruppe als die große Zahl derer, die sich im Graubereich zwischen riskantem Konsum und Sucht befinden und im Alltag nicht als Betroffene wahrgenommen werden.

Das Eingeständnis, Alkoholikerin zu sein war schmerzhaft und überwältigend, aber auch notwendig, damit ich für die nächsten Schritte bereit wurde: Nur so konnte ich aus meinem inneren Diskussionsclub aussteigen und unbequeme Hilfe annehmen. 

Machtlosigkeit ist ein Begriff, der Abwehr bei mir auslöste: Ohnmächtig zu sein gegen die  Macht von Anderen oder eine Situation nicht ändern zu können, das war mein schlimmster Alptraum und jetzt sollte ich meine Machtlosigkeit zugeben. Tag für Tag hatte ich gegen Ende meines Trinkens eine besonders demütigende Form von Machtlosigkeit erlebt: Den Kontrollverlust in der Sucht, wenn der eigene Wille nicht mehr existiert und alle Versuche, das Trinken in den Griff zu bekommen, grausam scheitern. Aber nur dieses Paradox erlaubte mir den Ausstieg aus dem Kampf: Ich musste nicht mehr länger mit Klitschko in den Ring steigen und Tag für Tag ausprobieren, ob ich besser boxe als er. Endlich konnte ich aufgeben.

Mir wurde ein weiterer, sehr aufregender Aspekt nahegelegt: In allen Bereichen, in denen ich keine Macht habe, trage ich auch keine Verantwortung: Bezogen auf Alkohol heißt das, ich höre auf, das Trinken zu bekämpfen und kann genesen. Bezogen auf alle weiteren Lebensbereiche gibt es verschiedene neue Erkenntnisse: Ich kann aufhören, meine Vergangenheit ändern zu wollen. Ich brauche auch nicht mehr länger zu versuchen, meinen Chef und meine Kolleginnen zu ändern oder das System, in dem ich arbeite. Und bin auch nicht verantwortlich dafür, in wen unsere Kinder sich verlieben. Und auch nicht für das Wetter und den Einsatz von Laubbläsern in der Nachbarschaft.

Ehrlich gesagt ist die Liste der Machtlosigkeiten in meinem Leben viel länger als die kurze Aufzählung der Bereiche, in denen es allein nach meinem Ermessen zugeht.

Machtlosigkeit als Befreiung von Verantwortung. Das hatte ich nie so gesehen, aber mir wurde klar, dass hier eine gewaltige Erleichterung auf mich wartete. So viele neue Freiheiten und so viel Energie, die ich plötzlich hatte, weil ich anerkannte, wo überall ich nicht in der Verantwortung stehe.

Liebe Fans von Marie Kondo, nicht böse sein, aber Nüchternsein im ersten Jahr: Das ist Ausmisten der sehr sehr fortgeschrittenen Art!

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst!

 

Alles Liebe und Gute! 

Juna

 

PS: Was sind die Meilensteine in Deinem ersten nüchternen Jahr?

PPS: Bald geht es hier weiter mit meinem zweiten Jahr der Nüchternheit: Darin wurde es immer wichtiger für mich, freundlich und gütig zu sein.

 

 

 

Kommentare

  1. Es sind so viele gute Gedankenanstöße in diesem Post zum ersten Jahr. Bei manchen Punkten denke ich für mich: Oh, da stecke ich aber noch voll in dem Prozess des ersten Jahres. Denn Deine Schilderung von Machtlosigkeit hat bei mir erst einmal zu einer klaren Abwehr geführt. Ich bin doch erfolgreich, weiß mich in meinem Job durchzusetzen, kann doch eindeutig die Dinge so beeinflussen wie ich es mir wünsche. Oder? Dann habe ich es ein zweites und ein drittes Mal gelesen und gebe zu, dass die Anerkenntnis der Machtlosigkeit ein großer Schlüssel ist. Ich habe ihn noch nicht in der Hand, aber ich weiß nun zumindest, dass es ihn gibt.
    Was hat mir im ersten Jahr geholfen? Auf jeden Fall auch das aufräumen im Haus, kein zulassen von "Fake"-Non-Alcoholic Getränken - und auch das ich mir nach außen damit beholfen habe, dass ich mit Ausreden hantiert habe, um bei einer Feier oder so nicht mittrinken zu müssen. Es ist allerdings schon besonders mit welchen Blicken und Kommentaren ich bedacht wurde. Denn so kannte mich halt keiner. Außerdem hat mir die Offenheit in meinem direkten Umfeld geholfen - darüber zu sprechen - es auszusprechen - raus aus der Geheimnistuerei.
    Danke, Juna, für Deine Posts.

    PS Ich freue mich schon auf Deine Gedanken und Berichte aus Deinem zweiten Jahr

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  2. Liebe Juna. Danke für diesen wunderbaren Text.
    Ein Meilenstein in meinem ersten Jahr war, dass ich meinen Tagesrhythmus vollständig geändert habe. Getrunken habe ich abends heimlich, nachdem alle schlafen gegangen waren. Dann kam „meine wichtigste Zeit“ des Tages. In der ersten Zeit ohne Alkohol stand ich morgens um fünf auf, damit ich abends, wenn es „gefährlich“ wurde ausreichend müde war und schlafen gehen konnte. Ja, ich habe manches Mal um 5:00 Uhr geflucht und es war schwer aus dem Bett zu kommen. In der Zeit habe ich auch noch sehr schlecht geschlafen. Mein Körper war geschunden von jahrelangem Alkoholkonsum.
    Diese radikale Änderung meines Tagesablaufs hat mich sicherlich vor vielen verzweifelten Abendstunden gerettet.

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