A day in the life

 

 

Ich feiere diesen Sommermorgen, weil ich einer Freundin beistehen darf, weil mein Mann unbelastet über’s Wochenende wegfährt und weil gleich mein Bruder vorbeikommt. Alles nichts Besonderes? Doch – für mich schon, weil alle drei  Alltagsbegebenheiten auf meiner Nüchternheit basieren.

Meine Freundin braucht mich. Heute bin ich wieder eine authentische und verlässliche Freundin. In meiner Selbsthilfegruppe habe ich neue, ganz besondere Freundschaften geschlossen, weil wir aus der Alkoholsucht herauswachsen wollen und über alles offen sprechen, was damit zusammenhängt. Wir sind Freundinnen, weil wir uns mögen. Aber wir sind auch Gefährtinnen auf unserer Heilungsreise. Und so hat mich heute Morgen meine Freundin gefragt, ob ich heute telefonisch erreichbar bin, nur für alle Fälle: Ihre Tochter heiratet und sie wird auf dieser Hochzeitsfeier von Sekt, Bier, Wein und Schnaps umgeben sein. Als Mutter der Braut wird sie oft anstoßen müssen und dabei keinen Tropfen Alkohol trinken. Ihr tut es gut zu wissen, sie kann mich jederzeit anrufen, falls sie sich unwohl fühlt. Und mir tut es gut, gebraucht zu werden und zu wissen, wie wirksam Interventionen am Telefon sind. Sie nannte Alkohol heute Morgen einen Säbelzahntiger. Ich antwortete ihr, schon allein ihre Offenheit und die kleine Sicherheitsvorkehrung mit der Anrufmöglichkeit, haben die Großkatze auf die Größe eines Frettchens schrumpfen lassen.

Mein Mann fährt leichten Herzens über’s Wochenende weg. Leichtigkeit ist erst wieder möglich für ihn, seit ich mit dem Trinken aufgehört habe und er sich keine Sorgen mehr um mich macht. Seit er nicht mehr fürchten muss, in welchem Zustand er mich vorfinden wird, wenn er nach Hause kommt und seit ihn die Angst um unser ganzes gemeinsames Leben nicht mehr zu verschlingen droht. Heute ist mein Kopf  frei von so kranken Gedanken wie "gut dass er nicht da ist, dann kann ich endlich trinken". Und mein Mann kann seine Reise genießen und sich auf seine Rückkehr freuen.

Mein Bruder kommt vorbei. Fünfzehn Jahre haben wir uns nicht gesehen, hatten viele Jahre Funkstille. Letztes Jahr habe ich eine Wiedergutmachung bei ihm gemacht. Wir haben uns verziehen und sind jetzt wieder herzlich verbunden: „Irgendwie gut, dass du Alkoholikerin geworden bist. Ich hätte den ersten Schritt wahrscheinlich nie gemacht!“ sagte er. Garantiert gibt es bessere Wege zur Pflege geschwisterlicher Beziehungen. Aber klar, ohne meine Genesung, das 12-Schritte-Programm und tiefgreifende Veränderungen in meinem Denken, Fühlen und Handeln - ohne diesen inneren Prozess hätte ich das auch nicht geschafft, wahrscheinlich nicht mal gewollt.

So bin ich heute Morgen glücklich unterwegs auf der Hunderunde und feiere einen hundsgewöhnlichen Samstagmorgen, der genug Stoff liefert, um hier meine Freude und Dankbarkeit zu teilen.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

 

Alles Liebe und Gute

Juna

PS: Wenn Du auch nüchtern lebst, wann hast Du das letzte Mal gemerkt, welche kleinen und großen Geschenke das Leben Dir macht?

PPS: Hast Du auch schon mal jemandem per Telefon bei akutem Suchtdruck geholfen? Oder hat Dich umgekehrt so eine Sicherheitsleine aus der Situation gerettet?

Kommentare

  1. Aus Deinem Post scheint die Sonne und das Leben, lieb Jana. Vielen Dank.
    Das 12 Schritte-Programm habe ich noch nicht gemacht, aber beschäftige mich schon lange mit den Gedanken zur Wiedergutmachung. Denn auch bei mir liegen viele Beziehungen still, da diese die letzten Jahre nicht überstanden haben. Wenn ich bei Dir nun diese Leichtigkeit und Bereicherung lese, dann motiviert mich das zu diesem Schritt.
    Wie lange hast Du Dir Zeit für Dein 12 Schritte-Programm genommen? Wie hast Du Deinen Sponsor dafür gefunden?
    Danke.

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    1. Ich habe mir für die 12 Schritte etwas mehr als ein Jahr Zeit gelassen - es hat gedauert, die einzelnen Schritte zu begreifen und nicht nur mit dem Kopf den Inhalt zu erfassen. Die Wiedergutmachungen kommen im 9. Schritt, also sind schon 8 vorausgegangen, in denen intensive innere Heilungsprozesse ablaufen und darin liegt ein tiefer Sinn. Zum Beispiel müssen wir uns zunächst selbst verzeihen, dann den Anderen und erst danach können wir sie um Verzeihung bitten und Wiedergutmachung leisten. So habe ich es erlebt, wenn es um Beziehungen zu mir nahestehenden Menschen ging. Meine Sponsorin habe ich gefunden, indem ich viele Meetings besucht und mir die Sprecherinnen angehört habe. Wenn Du mit dem Gedanken spielst, dann packe es an, schiebe es nicht auf die lange Bank. Denn die Leichtigkeit und Bereicherung, die Dich angesprochen hat, kann dann auch Teil Deines Lebens werden.
      Alles Liebe und Gute!

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  2. Ja, es passieren wahre Wunder wenn wir bereit sind den Weg der 12-Schritte zu gehen. Auch ich kam vor etlichen Jahren zu der Erkenntnis "Ich kann nicht mehr...Nicht mit und nicht ohne Alkohol" Alles was Du liebe Juna jetzt erleben darfst, kann ich nur bestätigen. Es lohnt sich. Tag für Tag. Klar wollte ich alles gleich und sofort haben. Nass in meinen Gedanken eben. Meine Weggenossen und vor allem mein Sponsor brachte mich immer wieder auf die wesentlichen Dinge zurück. Zeit, Zeit, Zeit, Geduld, Geduld, Geduld, Gelassenheit, Gelassenheit, Gelassenheit. Und ich kapierte, dass ich das 12-Schritte-Programm nicht auswendig können muss und auch nicht einmal im Leben "durchnehmen" ...sondern wirklich und immer danach leben. Tag für Tag.

    Ich freue mich jetzt schon auf Deinen nächsten Post
    Liebe Grüße
    Be-sober

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    1. Hi Be-sober,
      danke für Deinen Kommentar und dass Du Deine Erfahrungen hier teilst. Ein Sponsor ist eine Person, die uns durch die 12 Schritte führt, viel Erfahrung besitzt und als Ansprechpartnerin für uns da ist. Nur mal, um den Begriff zu erklären. Besonders danke ich Dir für den Hinweis, dass es um das alltägliche Leben geht, Tag für Tag bleiben wir nüchtern und Tag für Tag versuchen wir umzusetzen, was wir gelernt haben.
      Liebe Grüße

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  3. Ich habe mal eine nüchterne Freundin angerufen als ich dringend nen Drink bräuchte , und ihr geschildert was gerade so unerträglich und furchtbar ist. Sie sagte als erstes : " das verstehe ich, daß Du jetzt trinken willst" Das verstanden werden hat so gut getan, dass ich weiter zugehört habe. An diesem Tag musste ich nicht trinken.

    Danke Juna für deinen Blog . Deine Ehrlichkeit öffnet mich, darüber zu sprechen. So kann das Tabu leichter heilen. Vielen Dank

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    1. Hi, danke für Deinen Kommentar. Deine Erfahrung zeigt, dass es tatsächlich hilft, wenn wir darüber sprechen, was los ist, wenn wir Suchtdruck haben oder ein anderes Problem. Ganz oft erleben wir schon allein dadurch Erleichterung. Danke, dass Du diese Erfahrung hier geteilt hast.
      Liebe Grüße

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