Sich liebevoll von Kindern lösen trotz Alkoholvergangenheit?

 

Dass sich Kinder von ihren Eltern abnabeln, ist klar. Aber gilt das auch umgekehrt? Für mich ist das ein neuer Gedanke, er denkt sich noch ungelenk, doch die neuen Synapsenkontakte blinken schon vielversprechend (wer sich mit Gehirnchemie auskennt, möge bitte großzügig die neurologischen Details überlesen). Er kam mir neulich morgens nach der Lektüre der Tagesmeditation in Melody Beatties: "Kraft zum Loslassen". Sie ist eine zuverlässige Lieferantin neuer Ideen für mich. 

In ihrem Text geht es darum, dass wir Eltern uns liebevoll von unseren Kinden lösen und sie ihren eigenen Lernprozessen überlassen können. Konsequent geht Beattie noch einen Schritt weiter und schreibt, wir sollten danach streben, unsere Stärke geltend zu machen als Menschen, die auch Eltern seien.

Unsere Kinder haben ihre eigenen Lernprozesse. Mir gefällt der Gedanke, alle Wege der Kinder mit sämtlichen Abbiegungen, ihre bewegten Gefühlswelten mit vielen Aufs und Abs, ihre eigenen Bemühungen und Entscheidungen, ihre Erfolge und ihre Niederlagen zu akzeptieren als Lernvorgänge, die ihnen gehören und zu ihnen gehören. Sie eignen sich das Leben an, auf ihre Weise. Ich kann mitfühlen, muss aber nicht zwingend mitleiden. 

Das klingt wie eine sehr schöne, sehr gute Theorie. In der Praxis gibt es in meinem Kopf nur eine große Denkautobahn, breit und einspurig: Kind hat ein Problem, ehemals trinkende Mutter ist schuld. Mein Trinken hatte meine ohnehin schon vorhandenen Zweifel, ob ich gut genug als Mutter bin, leider vom kleinen Schwelbrand zum mächtigen Großfeuer entfacht. Zum Glück ist in zweieinhalb Jahren Nüchternheit und Arbeit im 12-Schritte-Programm eine Menge Löschwasser geflossen, aber von Zeit zu Zeit meldet sich ein hartnäckiges Flämmchen, wenn das Kind Kummer oder Ängste hat und beleuchtet eben jene ausgewalzte Denkspur in meinem Hirn.

Wo beginnt und wo endet meine Verantwortung als Mutter? Beattie zählt auf, was in ihren Augen zu elterlicher Verantwortung gehört: Materielle Fürsorge, Anleitung zur Selbsthilfe so früh wie möglich, Liebe und Führung, eine gefestigte, verlässliche Umgebung und Hilfe, um Werte zu erkennen. Ich finde, das ist ein guter Katalog, der das Wichtigste enthält und kann hinter jeden Punkt einen Haken setzen. Der große Bonus-Sohn ist ausgezogen, lebt im Ausland und blüht auf in seinem ersten Job. Meine Tochter lebt noch bei uns, weil sie es möchte, jobbt und sucht noch ihren Weg. Selbstverständlich sind wir weiterhin da, unvermindert liebend und zuverlässig, auch mit Rat und Tat, wenn die Kinder darum bitten und das tun sie immer wieder.

"Die eigene Stärke in Beziehungen geltend machen...", Beattie meint damit, sorgsam mit sich selbst umzugehen, gesunde Grenzen zu setzen und die Verantwortung bei der Person zu lassen, der sie gehört. Sie meint auch, sich von dem eigenen Kontrollbedürfnis zu lösen und zu akzeptieren, dass wir niemanden ändern können außer uns selbst.

Darf ich das auch als ehemals trinkende Mutter? 

Ja, unsere Kinder nehmen mich wahr als einen Mensch, der Hilfe angenommen und sich aus seiner Sucht befreit hat. Sie haben mich am Boden erlebt und sehen mich heute mit den Füßen fest auf der Erde stehend und den Kopf in den Himmel streckend.  Selbst aus so einer Lebenskrise gibt es einen Ausweg, und sie haben mitgekriegt, dass ich ihn gefunden habe. 

Ich habe mich verändert, den einzigen Menschen, bei dem ich das kann. Ich habe keine Macht über unsere Kinder oder über irgendeinen Menschen und das will ich auch gar nicht (na ja manchmal vielleicht, wenn ich ganz sicher weiß, was für den anderen das richtige ist, der das halt leider noch nicht geschnallt hat und es nun ganz dringend braucht, dass ich ihm den Weg zeige, oder so ähnlich). Und wo ich keine Macht habe, bin ich auch nicht verantwortlich. Das ist ein sehr vertrauter Gedanke aus den 12 Schritten und könnte mir helfen, wenn ich das nächste Mal versucht bin, mich für alles verantwortlich bis schuldig zu fühlen, was die Kinder plagt.

Müsste ich nicht, statt Grenzen zu ziehen, jeden Tag versuchen, alles zu geben, was durch mein Trinken fehlte? 

Nein, denn die Vergangenheit kann ich nicht ändern. Aber für das Heute übernehme ich die Verantwortung.

Und ist es nicht selbstgefällig zu sagen, ich könne hinter jeden Punkt der Beattie-Liste einen Haken setzen?  

Nein, seit aus unseren Kindern Jugendliche wurden, ging es immer weniger um Erziehen oder Belehren, sondern um Vertrauen und zunehmend gleichberechtigte Vereinbarungen (wobei sie sicher andere Vorstellungen von der Geschwindigkeit dieses Prozesses hatten).  Sie treffen ihre Entscheidungen, manchmal fragen sie, aber sie folgen nicht immer unseren Empfehlungen, vielleicht machen sie Fehler, vielleicht verpassen sie Chancen. Ja wer nicht? Und wer wird am langen Ende wissen, welcher Weg nun richtig war? Ich nicht.

Ich stelle mir für einen Moment die besten Eltern der Welt vor: Supermutter und Supervater haben ihren Kindern stets die richtigen Bewältigungsstrategien vorgelebt. Doch nicht einmal diese fiktiven Supereltern könnten ihren Kindern abehmen, was diese selbst zu lernen haben: Entscheidungen zu treffen und mit den Folgen umzugehen. Einen Platz im Leben zu finden und mit den Aufgaben, die das Leben ihnen stellt, fertig zu werden. Verantwortung zu übernehmen für sich selbst.

Es sieht so aus, als könnte ich weiter meinen Trampelpfad bahnen und die breit gespurte Denkautobahn immer weiter links liegen lassen. Da passiert so viel Neues in meinem Denken, dass ich froh bin, dass die Synapsen bei ihrer Arbeit nicht quietschen.

Und es tut gut daran zu denken, wer alles verantwortlich war: Eltern und Bonus-Eltern, Großeltern, Onkel, Tanten und liebe Freunde und Weggefährten - ihnen allen sei hier aus tiefstem Herzen gedankt - unserem speziellen Dorf, das es brauchte, um unsere Kinder großzuziehen.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst. 

 

Alles Liebe und Gute

Juna

 

PS: "Elternsein ist wie das Falten eines Spannbettlakens. 
Niemand weiß, wie es richtig geht."

Kommentare

  1. Liebe Juna, ich danke dir für die schönen Minuten, die du mir mit deinem tiefsinnigen und doch so humorigen Text geschenkt hast. Meine drei Erwachsenen Kinder sind ausgezogen und leben mit netten Partnern/Partnerinnen zusammen. Bei zweien habe ich den neunten Schritt, die Wiedergutmachung, gemacht. Bei meiner mittleren Tochter traue ich mich noch nicht. Der Zeitpunkt wird kommen. Da sind die drei Gs gefragt. Geduld, Geduld, Geduld. Ich merke, wie sich durch das zwölf Schritte Programm mein Denken über mich selber als Mutter verändert. Ich habe es so gut gemacht wie ich konnte. In meinem alkoholischen Denken als Perfektionisten gab es nur Selbstzweifel und Selbstvorwürfe. Meine Kinder ihr Leben leben zu lassen, ohne Einmischungen, ist eine der schwersten Übungen für mich. Nicht kontrollieren, nicht bewerten, sie einfach in Ruhe lassen. Diese Übung ist schwer, aber es lohnt sich. Mit meinen Kindern fühle ich mich in Liebe verbunden und dass wunderbare ist, sie sich auch mit mir ( wenn ich ihren Worten glauben darf). Ich grüße dich und freue mich schon auf weitere Einblicke in dein Leben. Hage-dorni

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    1. Liebe Hage-dorni, vielen Dank, dass Du Deine Erfahrungen als dreifache, früher trinkende Mutter hier teilst. Du sprichst so wichtige Dinge an, wie Geduld haben, wie schädlich Perfektionismus ist und wie schwer es ist, die Kinder ihr eigenes Leben leben zu lassen. Deine Kinder sind älter als meine und Du machst mir Mut. Ich hoffe, ich lerne mit der Zeit das Loslassen immer besser. Ohne Deine Kinder zu kennen, sage ich Dir: "Glaub ihnen ruhig und freu Dich ohne Einschränkung!" Herzliche Grüße Juna

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  2. Das Thema "Kinder" macht mich verwundbar. Es ist etwas ,dass ich nicht kontrollieren kann. Aber eins kann ich sagen, obwohl ich nun so langsam ihre Probleme nicht mit meinem früheren Trinken in Bezug bringe. Ich habe ihnen immer ihre Freiräume gelassen. Ihre Entscheidung= Ihr Leben. Leben und leben lassen. Siddhartha und die Geschichte aus der Bibel "Der verlorene Sohn", bei dessen Rückkehr das beste Kalb geschlachtet wurde, lässt mich hoffen, dass auch meine Kinder von Gott behütet werden.

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    1. Dein Kommentar bestärkt mich, weil Du mir zeigst, Du bist ebenfalls auf diesem Weg: Noch verwundbar (das werden wir als Mütter oder liebende Menschen allgemein auch immer bleiben) aber eben auch schon ein Stück weiter, wenn Du die Probleme Deiner Kinder nicht mehr mit Deinem früheren Trinken in Verbindung bringst. Und Du schreibst, was hilft: Ihnen Freiräume zu lassen. Sie treffen eigene Entscheidungen, es ist ihr eigenes Leben. Danke dafür!

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  3. Liebe Juna, vielen Dank! Ich freu mich über deinen Beitrag, in dem du über ein für uns Mütter so schwieriges Thema nachdenkst. Es betrifft, wie ich von meinen nicht alkoholkranken Freundinnen weiß, nicht nur uns, aber uns halt besonders und besonders hart ist es für Mütter, die in der Schwangerschaft getrunken haben. Sie müssen nach neueren Erkenntnissen fürchten, dass sie ihren Kindern dauerhafte neurologische Schädigungen zugefügt haben.
    Ich bin sehr dankbar, dass ich damals, wenn auch mit großen Schwierigkeiten, auf Alkohol verzichten konnte und ich fühle mit allen, die das nicht geschafft haben. Im Hinblick auf Epigenetik bin ich bis heute versucht, nachzulesen, ob auftretende Probleme mit Alkohol in Zusammenhang gebracht werden können trotz des Wissens, dass es den perfekten Menschen nicht geben kann. Es gelingt mir immer besser, auch hier loszulassen, aber zu akzeptieren, dass ich Vergangenes nicht ändern kann, fällt mir in diesem Zusammenhang manchmal noch schwer. Der Zwang, mich schuldig zu fühlen, ist nicht mehr so stark wie früher, aber er lauert und da darf ich noch lernen, abzugeben. Da waren deine Gedanken wieder sehr hilfreich und ich habe meine total zerlesene Melody Beattie wieder auf den Nachttisch gelegt.
    Liebe Grüße und bis bald…

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