Hilft beten? Beten hilft (nicht).


Also mir schon. Obwohl die Wissenschaft zum dem Ergebnis kommt, beten helfe nicht. Zumindest eine groß angelegte Harvard-Studie von 2006 zog den unbequemen Schluss, dass Fürbitten nicht nur unwirksam sind im Hinblick auf die Vermeidung postoperativer Komplikationen, sondern sogar riskant für die Bedachten werden können, wenn sie wissen, dass für sie gebetet wird. 

Wie das? Patienten in 6 US-amerikanischen Krankenhäusern wurden nach dem Zufallsprinzip einer von 3 Gruppen zugeteilt: 604 erhielten ein Fürbittgebet, nachdem sie darüber informiert worden waren, dass sie ein Gebet erhalten können oder nicht; 597 erhielten kein Fürbittgebet, nachdem sie ebenfalls darüber informiert worden waren, dass sie ein Gebet erhalten können oder nicht; und 601 erhielten ein Fürbittgebet und die Information, dass für sie gebetet würde.

Das Fürbittgebet wurde 14 Tage lang abgehalten, beginnend am Abend vor der Bypassoperation. Gebetet wurde von Gläubigen dreier unterschiedlicher amerikanischer Kirchengemeinden, den Beterinnen und Betern waren nur der Vorname und der Anfangsbuchstabe des Nachnamens der Patienten bekannt. Sie durften ihre Gebete frei formulieren, allerdings musste die Bitte um "eine erfolgreiche Operation mit einer schnellen gesundheitlichen Genesung und ohne Komplikationen" enthalten sein.

Das Ergebnis verblüffte die Forscherinnen und Forscher: Gruppe 1 (bekommen Gebete, wissen es aber nicht sicher) und Gruppe 2 (bekommen kein Gebet, wissen es aber nicht sicher) hatten nach den Operationen etwa gleich große Raten an Komplikationen (51 und 52%).

Die Fürbitten erwiesen sich demnach als medizinisch wirkungslos. Das kam unerwartet, denn unter den Ärztinnen und Ärzten hielten es viele für wahrscheinlich, dass spirituelle Kräfte Heilungsprozesse positiv beeinflussen können.

Ein weiteres kontraintuitives Ergebnis zeigte die dritte Gruppe: Diese Gruppe wusste, dass für sie gebetet wird und mit 59% Komplikationen lagen ihre Werte höher als die der anderen Gruppen. Die Autorinnen und Autoren der Studie können den Grund dafür nur vermuten: Vielleicht war es Zufall. Vielleicht hat die Erwartung, alles müsse komplikationslos verlaufen, weil schließlich für sie gebetet werde, die Patienten unter Stress gesetzt, und dieser Stress beeinträchtigte den Heilungsprozess.

So kann es gehen, wenn seriös geforscht wird: Man bekommt ein Ergebnis, doch es gefällt einem nicht.

Ich bete trotzdem und zwar täglich. Mein Handy erinnert mich um 10.40 Uhr mit einem diskreten Ping daran: Durchatmen und beten. Egal wo ich gerade bin: Innerlich trete ich einen Schritt zurück, nehme einen tiefen Atemzug und spreche stumm mein bewährtes Lieblingsalltagsgebet: Das gute alte Gelassenheitsgebet in einer längeren Form. Es zeigt seine Wirkung auf der Stelle. Ich werde ruhiger, entspanne mich, das Gefühl gestresst zu sein, reduziert sich und meinem ganzen Sein wird auf einmal wieder klar, dass es mehr gibt auf der Welt als das Klein-klein, das mich gerade so beschäftigt und vor meinem geistigen Auge weitet sich mein Horizont. Ich verbinde mich mit meiner Höheren Macht und habe sofort das Gefühl, ich muss nichts alleine schaffen. Mein Vertrauen blüht auf.

Beten kann also Stress lindern. Das passiert durch die Freisetzung von Serotonin bei der Entspannung. Nach meiner Erfahrung wird die Entspannung auch durch den Wiedererkennungseffekt unterstützt. Die vertrauten Worte wirken beruhigend und für mich macht es viel Sinn, immer wieder dieselben Gebete zu sprechen, ich mag es auch sehr, wenn ich sie auswendig kann. 

Für mich symbolisieren die Gebete auch die Rituale meiner Selbsthilfegruppe, die Meetings beginnen und enden so und sie stehen für meine Heilungsreise durch die 12 Schritte. Damit stehen sie für etwas Kostbares und Gutes in meinem Leben und seit zweieinhalb Jahren begleiten sie mich täglich.

Ich kann gut nachvollziehen, warum Gläubige viel Trost und Stärke schöpfen aus der immer gleich ablaufenden Liturgie ihrer Gottesdienste. Da fällt mir gerade meine Tochter ein. Als sie klein war, duldete sie keinerlei Abweichungen beim Erzählen ihrer Lieblingsgeschichten und widersprach empört bei der kleinsten Veränderung. 

Alles, was uns vertraut ist, schafft Sicherheit, auch darin liegt die Stärke von Ritualen.

Ich habe das erst durch die 12 Schritte verinnerlicht. Es tut mir gut und ich habe immer mehr eine Beziehung zu meiner Höheren Macht aufgebaut, die ich gerne als liebenden Life Coach beschreibe: Eine unerschöpfliche Quelle von Kraft, Liebe, Geduld und Weisheit. Für andere ist es der Gott einer der großen Weltreligionen oder sind es andere Götter oder ihre ganz eigene Vorstellung einer Höheren Macht. Für mich ist das eine der größten Leistungen der AA-Gründer: Die Freiheit zu geben, dass Gott ist, was jeder für sich unter Gott versteht.

Damit lässt sich das Gebet auf die eigene Weise nutzen: als religiöse Handlung, als Entspannungsübung, als Autosuggestion, als Hirnchemieverbesserung oder als bewusste Verbindung zur Höheren Macht.

Ich kenne viele schöne Alltagsgeschichten von Freundinnen, die mir erzählen, wie ihnen das Beten wieder einmal geholfen habe, Situationen wie einen angstbesetzten Zahnarztbesuch oder das stressig empfundene Einkaufen im Supermarkt gut zu überstehen. Und ich kann bestätigen, es hilft sogar beim Parkplatzfinden. Über mein intensives Gebet, meine Zwiesprache mit meiner Höheren Macht habe ich hier auch schon mal geschrieben: Das Twowayprayer. Dabei kann ich gezielt fragen oder mich auf schwierige Situationen mit der Hilfe Gottes vorbereiten oder eine Entscheidungshilfe suchen. Eine nützliche Erfindung.

Amerikanische Gläubige konnten durch ihre Gebete amerikanische Herzpatienten also nicht vor Komplikationen im Heilungsprozess bewahren. So sei es!

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

 

PS: Gott gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,

den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann 

und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Gib mir Geduld mit Veränderungen, die ihre Zeit brauchen

und Wertschätzung für alles, was ich habe,

Toleranz gegenüber jenen mit anderen Schwierigkeiten 

und die Kraft, aufzustehen und es wieder zu versuchen.

 

Reinhold Niebuhr (1892-1971), Theologe (Profi eben ;-)


 PPS: Der Link zur Studie: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/16569567/

 

PPPS: Mein Blogeintrag zum Twowayprayer: 

https://meinlebenohnealkohol.blogspot.com/search?q=Twowayprayer

und mein Blogeintrag zu Gebeten für jede Lebenslage: 

https://meinlebenohnealkohol.blogspot.com/search?q=von+den+Profis

 

  


Kommentare

  1. Liebe Juna. Vielen Dank für diesen neuen Blog Eintrag. Von der amerikanischen Studie hatte ich bisher noch nicht gehört. Interessant, aber nicht der Weisheit letzter Schluss. Für mich!
    Am Wochenende zeigte sich für mich wieder einmal, das beten hilft. Es hatte sich Wochenend Besuch angesagt und ich war angespannt, wie die gemeinsame Zeit sein würde. Ich betete und bat Gott um Hilfe. Mein Minderwert in Würde umzuwandeln, Perfektionismus in Gelassenheit, Überhöhte Erwartungen in Bescheidenheit , Angst in Vertrauen………Ich wusste, ich muss die Herausforderungen der Gemeinschaft mit anderen Menschen nicht alleine schaffen. Es war ein wunderschönes, friedliches und harmonisches Wochenende. Danke Gott!
    Liebe Grüße hage-dorni

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  2. Liebe Juna, ich habe wieder mit großem Interesse gelesen und auch gleich noch den Blog Twowayprayer zur Wiederholung. Wie immer sehr gut, humorvoll und nicht belehrend geschrieben.👍👍👍
    Die amerikanische Studie find ich befremdlich, sie deckt sich so gar nicht mit meinen Alltagserfahrungen. Vielleicht hätte man nicht nur um Genesung bitten sollen, sondern auch um die Kraft, Ausdauer und Geduld der Patienten, um ihren Eigenanteil zu stärken. Oder es lag an der Anonymität, vielleicht wirkt die persönliche Fürbitte von einer bekannten Person besser.
    Ich vermute, es gibt unzählige Arten zu beten und schon ich praktiziere einige: spontan, ein Danke für Gutes und Gelungenes oder auch eine Bitte um Unterstützung und Gelassenheit in schwierigen Situationen. Dann Abends der Dank für den Tag und da gibt es immer viel: meine Trockenheit, freundliche Begegnungen, gelungene Aufgaben. Auch für meine unangenehme Zahn-OP danke ich, denn ich habe das Glück, in einem Land zu leben, das es mir erlaubt, mein Gebiss mit Hilfe eines gut ausgebildeten Arztes und einer funktionierenden Medizin zu behandeln. Und wenn ich Ärger hatte, dann hilft der Spruch: "Was dich ärgert ist dein Lehrer!" und der Gelassenheitsspruch.
    Morgens für Kraft, Anstand und Freundlichkeit für Aufgaben und Begegnungen.
    Für mich ist beten auch immer so etwas wie Inventur. Ich komme zu mir und richte mich aus.
    Es gibt viele Anlaufstellen für Gebete und wichtig finde ich nur, dass sie eine konstruktive und positive Ausrichtung haben. Dann können sie meiner Meinung nach Gutes bewirken.
    Liebe Grüße Birgit

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  3. Liebe Juna,
    Danke für deine Infos und besonders für deine persönlichen Erfahrungen mit Gebeten.
    Ich möchte auch eine persönliche Erfahrung mit einer Fürbitte teilen.
    Vor Jahren hatte mein Vater schwarzen Haut-Krebs, der getreut hatte. Mein Vater ist ein Glaubensgegner.
    Ich habe für mich und mein " Haus" gebetet. Ich habe meiner Höheren Macht gesagt, ich sei noch nicht bereit mich zu verabschieden. Ob sie mir bitte noch etwas Zeit schenken kann, damit ich mit meinem Vater ins Reine kommen kann.
    Er hat überlebt. Wir haben uns versöhnt. Keine Statistik, keine Garantie - nur eine persönliche Erfahrung.
    Ich glaube an die Kraft von Gebeten, wenn ich das Ergebnis bei Gott, was immer ich darunter verstehe, lasse.
    Liebe Grüße K.

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