Wie geht Verzeihen? Teil 4: Meine Feindin steht noch auf der Liste


Mehr zu arbeiten, half nicht. Noch mehr zu arbeiten, half nicht. Mir Arbeiten aufdrücken zu lassen, half nicht. Nett zu sein, half nicht. Die von allen gehassten Aufgaben freiwillig zu übernehmen, half nicht. Als Letzte zu gehen, half nicht. Kuchen mitzubringen, half nicht. Sitzungsthemen gründlich vorzubereiten, half nicht. Teure Schokolade mitzubringen, half nicht. Noch netter zu sein, half nicht.
Das Team zu mir nach Hause einzuladen, half nicht. Jedem die Sitzungsunterlagen auszudrucken und hinzulegen, half nicht. Selbstgebackenen Kuchen mitzubringen, half nicht. Klein beizugeben, half nicht. Schleimen half nicht. Nicht aufzumucken, half nicht. Die Revolte zu wagen, half nicht, hatte aber zur Folge, dass ich von nun an mit offener Feindseligkeit behandelt wurde, bis ich geschlagen und gedemütigt das Feld räumte.

Diese hübsche Liste der Verzweiflung zählt Strategien auf, die ich über Jahre anwandte, mit den Zielen, anerkanntes und geschätztes Mitglied in meinem Kollegenkreis zu werden und eigene Ideen in die Arbeit einzubringen.

Was immer die Motive für die Handlungen meiner Kolleginnen und Kollegen gewesen sein mögen, weiß ich nicht. Meine Therapeutin in der Suchtklinik nannte es "astreines Mobbing". Das klang nach Opferrolle und gefiel mir nicht. Die Rettung lag in der Flucht von der Kampfstätte und im Loskommen von der Alkoholsucht durch eine allumfassende Lebensänderung. Dazu gehörte die Entscheidung, an einen neuen Arbeitsplatz zu wechseln, was ich von der Klinik aus in die Wege leitete.

Nur mich kann ich ändern. Folglich erforsche ich nur mich selbst. Gerade nehme ich einen neuen Anlauf, weil ich in einem anderen Zwölf-Schritte-Programm mit einer Sponsorin die Schritte arbeite. Ich rechne damit, dass neue Erkenntnisse aufploppen wie Kartoffelboviste. So heißt ein knollenartiger Pilz, der aufplatzt, wenn er reif ist und dessen Sporen dabei unaufhaltsam in der Luft zerstäuben. Als Kinder sind wir begeistert auf sie getreten und haben sie platzen lassen, um die kleinen, bräunlich-gelben Wolken freizusetzen. Heute habe ich einen Hang zu Pilzmetaphern, eine Spätfolge? 

In meinen eigenen Staubwolken fand ich bis jetzt das übergroße Bedürfnis nach Wertschätzung, ein Zeichen für ein schwaches Selbstwertgefühl. Ich gebe zu, ich war nicht fähig, die Leistungen meiner Kolleginnen und Kollegen mit ehrlichem Respekt anzuerkennen. Ich gab meinem Bedürfnis nach, sie durch Besserwisserei und Selbstgerechtigkeit auf eine kleinere Größe abzuwerten, mit der ich glaubte, besser umgehen zu können. Immer wieder wurde ich enttäuscht, weil ich immer wieder überhöhte Erwartungen an ihr Verhalten hatte. Ich verkannte die Lage, merkte nicht, dass es gefährlich für mich wurde und unterschätzte die Macht dieses alteingessenen Kreises total. Das war der Schluss des Dramas.

Auch das ist eine hübsche Liste, und sie zählt auf, was ich an Persönlichkeitsmerkmalen, Verhaltensweisen und Denkmustern ins Spiel brachte. In den letzten Jahren an diesem Schauplatz wurde meine Alkoholsucht immer schlimmer, weil ich wachsende Angst, Frustration, Wut, Ohnmacht, Depression und nackte Verzweiflung nur durch Trinken betäuben konnte. Durch weißweingetränkte Realitätsverleugnung konnte ich mich zwingen, täglich zur Arbeit zu gehen und eine äußerliche Tüchtigkeit zur Schau tragen. Trank ich, weil alles so schlimm war oder wurde alles so schlimm, weil ich trank? Diese ethanolhaltige Variante der Henne-Ei-Frage ist müßig, denn meine Vergangenheit kann ich nicht ändern.

Meiner schlimmsten Widersacherin begegnete ich kürzlich wieder. Das erste Mal seit der niederschmetternden Unterredung vor vier Jahren, die meinen Weggang auslöste. Wir waren beide Gäste bei einer großen Veranstaltung unseres Arbeitgebers. Wir sprachen nicht miteinander, obwohl wir nur wenige Meter auseinander standen. Ich spürte Groll in mir und Narbenschmerz. Sollte ich zu ihr hingehen und sie begrüßen? Um mir Größe zu beweisen und mich für die baldige Erleuchtung zu empfehlen? Ich entschied mich für ehrliches Bleibenlassen und tat, was ich konnte: Mich mehr oder weniger ungezwungen mit anderen Gästen unterhalten und einige Zeit dort verbringen. Ich hatte die Einladung angenommen, obwohl ich davon ausging, sie und andere aus dem alten Kreis würden dort sein. Ich hatte gebetet und mich mit meiner Höheren Macht verbunden. Wenn ich auch Beklommenheit spürte, zeigte ich mich und behauptete meinen Platz. Nicht beschwingt, aber gestärkt ging ich nach Hause. Dort musste ich keinerlei süchtiges Verhalten ausleben, sondern konnte in Ruhe meinem Mann davon erzählen und gut war’s.

Der Feindin zu vergeben, wird mir helfen, mein Haus noch besser in Ordnung zu halten. 
Mein Lebenshaus meine ich, nicht das aus Stein, das der Bank gehört.
Für den Anfang war der Abend eine ermutigende Erfahrung, und ein neuer Gedanke macht mich neugierig: Was, wenn sie mir einen großen Gefallen getan hätte? Ihre offene Aggression hat mich schneller an den Punkt gebracht, an dem ich bereit wurde, mit dem Trinken aufzuhören.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

 

PS: "Trust God, clean house, help others."

Dr. Bob

Kommentare

  1. Liebe Juna,
    danke für diesen tollen Beitrag. Ich habe mich in vielem wiedergefunden. Vor allem in den verschiedenen Strategien. Auch ich habe so gut wie alles ausprobiert um zu "gefallen" oder einen harmonischen Arbeitstag zu verbringen. Nichts hat geholfen und dann kam auch noch die unweigerliche und völlig ungerechtfertigte Entlassung. Die Scham, die Wut und das Selbstmitleid waren riesengroß und ich habe meinen Kummer jahrelang in Unmengen von Alkohol ertränkt.
    Gott sei Dank fand ich nach 5 Jahren Elend und Besäufnis zu AA. Dort habe ich, mit Hilfe meiner Sponsorin in den 12 Schritten, eine ehrliche Selbsterforschung gemacht. Leider musste ich feststellen, dass ich nicht unbeteiligt an meiner Misere und nicht nur das Opfer war. Diese Erkenntnis tat zwar weh, hat mir aber geholfen meine Haltung zu ändern. Was nicht heißen soll das Verhalten der Anderen schön zu reden. Aber ich kann weder die Vergangenheit, noch andere ändern, sondern nur versuchen im Frieden mit mir zu leben.
    Heute bin ich fast 4 Jahre trocken und muss nicht mehr die Straßenseite wechseln, Rachepläne schmieden und schon gar nicht „vor Wut trinken“, wenn ich auf alte Kolleginnen treffe.
    Allerdings ist mir meine größte Feindin von damals noch nicht über den Weg gelaufen. Sollte es mal dazu kommen werde ich mich an deine Worte, vor allem an die Zeilen: ".....nicht beschwingt, aber gestärkt ging ich nach Hause. Dort musste ich keinerlei süchtiges Verhalten ausleben, sondern konnte in Ruhe meinem Mann davon erzählen und gut war’s....."!
    Danke für diesen wertvollen Text!

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  2. Vielen lieben Dank für diesen ausführlichen Kommentar und dass du deine Erfahrungen mit uns teilst. Ich freue mich sehr, wenn mein Text Gedankenanstöße gibt und nützlich ist. Meiner Kollegin werde ich sicher in meiner anstehenden Inventur nochmal "begegnen" und dann gibt es Arbeit zu tun, bis ich hoffentlich irgendwann Frieden in mir habe und ebenfalls nicht die Straßenseite wechseln möchte, sondern ihr Guten Tag sagen und ehrlich wünschen kann. Alles Liebe und Gute für Dich!

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  3. Liebe Juna, vielen Dank für deinen Text, ich habe ihn wie immer sehr gerne gelesen. Du kannst einfach schreiben! Ich freue mich wieder einmal über deinen genauen Blick auf dein Verhalten und den Verzicht auf Selbstmitleid. Ich freu mich auch über deine gelungene Begegnung mit deiner Feindin und dass du zu dir stehen konntest. Sie hat sich mies verhalten und sich dafür nicht entschuldigt, warum also freundlich mit ihr reden? Aber man muss die Situation aushalten und das ist dir gelungen, alle Achtung! Verzeihen ist ein großes Wort und ich glaube, wir sollten es vor allem auf uns selbst anwenden und uns verzeihen. Wir wurden geschwächt und konnten uns nicht behaupten und das sollten wir uns verzeihen. Wer mich verletzt, ist mein Lehrer, lernte ich bei AA. Ich muss mich fragen, wo mein Eigenanteil war und was ich für mich ändern und lernen darf, um die erlebte Kränkung für mich in etwas Positives, nämlich hinzu Gelerntes, umzuwandeln. Dann darf ich Groll und Wut loslassen und heilen. Ich kann mich durch das Erkennen und Benennen meines Verhaltens auch mit zukünftigen Verletzungen besser auseinandersetzen. Die "Feindin" hat mit diesem Prozess aktiv nichts zu tun, aber für uns kann sie dadurch unwichtig werden und das reicht mir erst mal schon. Lieben muss ich sie nicht gleich😊. Liebe Grüße Birgit

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