Aus der Werkzeugkiste - Der Liebesbrief

"Wenn man beim Lesen weinen muss, ist es ein guter Brief", sagt meine Tochter, eine versierte und fleißige Liebesbriefschreiberin und Liebesbriefempfängerin. Sie schreibt ihre von Hand in bestens lesbarer Druckschrift, meistens auf die Rückseite selbst gestalteter Karten. Ich schätze die Möglichkeit des Überarbeitens, deshalb schreibe ich meine am Computer und verschicke sie ausgedruckt. Bei meiner Schrift ist schon das ein Ausdruck von Liebe. 

Schon immer habe ich Liebesbriefe geschrieben. Die ersten in der Schreibschrift einer Erstklässlerin waren mit Herzchen verziert und gingen an Opa und Oma. Der romantische Liebesbrief kam später in mein Leben mit allen denkbaren Höhenflügen und Jammertälern. Pubertät und Briefeschreiben war bei mir eine explosive Mischung. Auch der angemessene Umgang mit empfangenen Liebesbriefen war für mich ein Lernprozess mit Kummergarantie auf beiden Seiten. Die Variante ohne Worte, die selbst aufgenommene Kassette mit vielsagender Liedauswahl und selbst gestaltetem Papiereinleger war oft die bessere Wahl. Wer in den 80er Jahren Teenager war, erinnert sich.

Der folgenreichste Briefwechsel meines Lebens ist der mit meinem Mann. Dafür werde ich dem Internet für immer dankbar sein, denn so haben wir uns kennengelernt und schon seine erste Mail hat mich bezaubert. Das ist elf Jahre her. Inzwischen sind wir verheiratet und schreiben uns immer noch: Briefe zum Geburtstag und Jahrestag, Postkarten, und bevor die Romantik dem Alltag ganz erliegt, wird noch ein Herz auf die Einkaufsliste gemalt. Wenn jemand aus der Familie verreist,  schmuggeln wir Postkarten ins Gepäck. Das brachte die Krankenschwester in der Suchtklinik zum Lächeln. Beim Einchecken durchsuchte sie meinen Koffer und zwischen meinen Kleidern steckte ein Dutzend Postkarten von meinem Mann und meiner Tochter. Mich hielt die geschriebene Liebe aufrecht.

Ich fasse den Begriff von Liebe und damit auch des Liebesbriefes weit. In diesem Jahr habe ich meinem Mann, meiner Tochter, meinem Vater, einem Kollegen, einer Nachbarin und an Freundinnen geschrieben.

Äußere Anlässe sind gute Anreize, weil sie eine Zeitmarke setzen und dem Inhalt einen roten Faden geben, oft sind das Geburtstage. Auch Lebensereignisse  wie ein Schulabschluss, der Beginn einer neuen Arbeit, eine Hochzeit, Tod, Verluste und Trennung und die viel zu frühe Geburt eines Kindes waren für mich Gründe, meine Liebe auszudrücken. Letztendlich braucht es aber keinen Anlass, Papier und Schreibzeug genügen.

Eine Postkarte kann die Kurzfassung eines Liebesbriefes sein, wie eine Miniausgabe. Sie schreibe ich sehr oft. Postkarten haben häufig ein schönes Bild oder eine Botschaft auf der Vorderseite. Darauf beziehe ich mich beim Schreiben, und es ist ein großer Teil meiner Freude, die passende Karte aus meinem Fundus auszusuchen.

"Ein Werkzeug ist ein Hilfsmittel, mit dem man etwas leichter machen kann als ohne Werkzeug, oder überhaupt erst machen kann. Das Werkzeug ist meist ein einfaches Ding, das ein einzelner Mensch verwendet." Nach dieser Definition aus dem Kinderlexikon "Klexikon" betrachte ich einen Liebesbrief als Werkzeug.

Diese Sichtweise passt für mich, denn die geschriebene Form macht es mir leichter, meine Gedanken auszudrücken. Ich kann sie benennen, sortieren, verwerfen und schließlich so formulieren, wie es mir möglichst zugewandt, angemessen und aufrichtig erscheint. Und das ohne Unterbrechung, wie es oft in Gesprächen passiert durch die unmittelbare Reaktion meines Gegenübers. So macht es ein Brief überhaupt erst möglich, nach langem Schweigen wieder in Kontakt zu kommen und über schmerzhafte Inhalte zu schreiben, die im direkten Gespräch noch unaussprechlich wären. Eindrucksvoll habe ich das erlebt, als ich nach 15 Jahren Funkstille zu meinem Bruder Verbindung aufnahm, um eine Wiedergutmachung einzuleiten: mit einem Brief voller Liebe, der mir die Tür öffnete.

Briefe können auch nachreifen wie grüne Bananen in der Obstschale: Zum richtigen Zeitpunkt schmeckt es besser. Pures Gold ist die alte Weisheit, Briefe nicht spontan zu versenden, sondern eine Nacht darüber zu schlafen, denn mit dem Abschicken geht die Kontrolle gleich mit. Als Empfängerin habe ich den Brief in meinen Händen. Ich kann ihn annehmen oder nicht. Ich kann ihn in Portionen lesen, immer wieder oder gar nicht. Er kann im Müll landen oder in einer schönen Schatulle. Lesen und verstehen werde ich ihn immer auf meine Weise. Und diese kann krass abweichen von der Absicht des Schreibers. Worte sind unaufhaltsam und niemand kann sie zurücknehmen. Nicht unklug, wenn ich erstens beim Schreiben und zweitens beim Abschicken daran denke.

Das alles trifft auch auf Liebesbriefe zu. Für mich sind sie aber nicht nur einfache Werkzeuge, sondern sie können spirituellen Wert haben.

Liebesbriefe sind Geschenke und haben eine Strahlkraft, die nur wenige Kaufobjekte erreichen, so empfinde ich es. Wenn ich einen bekomme, denke ich an die Zeit, an die Mühe des Hineindenkens und Aufschreibens, vielleicht musste auch ein wenig Überwindung aufgebracht werden. Alles Geschenke von der Person, die sich hingesetzt und mir geschrieben hat. Ich lese die Liebe in den Worten und kann Glück, Freude und tiefste Liebe zurück empfinden. Manchmal muss ich den Brief zeigen oder daraus vorlesen, weil mir das Herz überfließt. Ich fühle mich gesehen, weil jemand an einen Anlass gedacht hat. Ich fühle mich verbunden, weil jemand in meiner Situation mit mir fühlt. Ich fühle mich geschätzt, weil jemand sich für mich Mühe macht. Ich fühle mich begleitet, weil jemand Interesse an meinem Leben zeigt, Anteil nimmt oder mir beisteht. Ich fühle mich geliebt in meinen Rollen als Ehefrau, Mutter, Freundin, Kollegin, Nachbarin und als Mensch.

Das nimmt der Sucht Angriffspunkte. Gute Beziehungen zu meinen Mitmenschen, ein gesundes Selbstwertgefühl, mich verbunden fühlen, um Unterstützung zu wissen - all das hilft mir, meine Nüchternheit zu schützen.

Noch stabiler wird mein Schutzschirm, wenn ich selber Liebesbriefe schreibe. Mich einem anderen Menschen zuzuwenden, lässt mich aus meinem Gedankenkarussell aussteigen. Anlässe nicht zu vergessen, erfordert Aufmerksamkeit und Organisation. Um von Lebenslagen zu erfahren, braucht es Kommunikation. Anderen Menschen näher zu sein, ihnen Aufmerksamkeit, Interesse und Mitgefühl zu schenken oder ihnen praktische Hilfe anzubieten, hilft mir gegen alkoholisches Denken: Es geht nicht um mich, meine Ängste, mein Selbstmitleid, meinen Minderwert, meine Probleme oder Befindlichkeiten.

Liebesbriefe zu schreiben, macht mich stärker, weil ich damit Liebe in die Welt bringe und zum Fluss des Lebens beitrage. Es  nährt mein Vertrauen. Es bringt mich weg vom Problem und hin zur Lösung. Es verbindet mich mit den Menschen und mit meiner Höheren Macht. Meine Vorstellung von Gott, ist eine unendliche und unbegreifliche Kraft von Liebe. Ich glaube, das ist es, wozu ich da bin: Die Menschen, mich selbst und mein Leben mit den Augen der Liebe zu sehen, mich lieben zu lassen und zu lieben - in einem weiten Sinn. 

Und ist es nicht ein Wunder, dass eine Superpower gegen die Sucht in Gestalt einer freundlichen Postkarte  oder eines gütigen Briefes daherkommt? Gott muss Humor und Phantasie haben.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst. 

Alles Liebe und Gute

Juna

 PS: Als warnenden Beitrag zum Schreiben von Liebesbriefen empfehle ich ein Gedicht von Janosch: "Das Liebesbrief-Ei". Darin geht es um die Erfahrung eines verliebten Huhns, das unter Papiermangel litt und eine unglückliche Problemlösung wählte.

PPS: Ein jahreszeitlicher Tipp: Ein Adventskalender aus Postkarten, Freude garantiert, wenn man jeden Tag eine bekommt!

Kommentare

  1. Es hat wieder ganz viel Freude bereitet Deinen Text zu lesen. Und Ja, ja und ja, liebe Juna, Liebesbriefe sind ein wundervolles Werkzeug. Ich bin ebenfalls ein begeisterter Postkarten-Liebesschreiber. Also in der von Dir bezeichneten Miniataurausgabe.
    Unzählige Kolleg:innen habe ich schon mit solchen Postkarten überrascht und sicherlich auch zum lächeln gebracht. Denn das ist für mich eine Erkenntnis: den Liebesbrief ohne Erwartungen absenden. Nicht die Erwartung daran knüpfen, dass ich eine Reaktion erhalten werde. Mir ist es schon oft so ergangen, dass die Postkarte oder der Brief zu keiner Reaktion führte ... und dennoch hat mir die Auswahl der Karte, die Gedanken an den Menschen viel Freude bereitet. Gepaart mit der Vorstellung, wie der Empfänger:in plötzlich zwischen Werbung und Rechnung eine Postkarte herausfischen wird. Das ist für mich Freude pur.
    Eine weitere Form für einen Liebesbrief ist für mich der Liebesbrief an mich selbst. Schon dreimal habe ich mir solche Briefe geschrieben. Diese dann an eine Freund:in weitergeleitet, mit der Bitte, den Brief zu einem von frei gewählten Zeitpunkt einfach mir wieder zurückzusenden. Gefühlt kamen diese Briefe immer im richtigen Moment bei mir an. Dann zu lesen, was ich Monate oder Jahre zuvor "mir zu sagen" hatte .... ein wundervolles Geschenk. C.

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  2. Vielen Dank - was für ein toller Beitrag! Ich muss sagen, das weckt meine Schreiblust (ist das eigentlich auch ein Germanismus?) die mir auf meinem bisherigen genesungsweg irgendwo abhanden gekommen ist 🙏🤷🏼‍♂️♥️ Danke für die Inspiration. Sei behütet und liebe Grüße T.

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  3. Liebe Juna,
    danke nochmal für Deinen Tipp mit dem Postkarten-Adventskalender: ich schreibe in diesem Monat jeden Tag Postkarten an meine liebe 90-jährige Mutter. Kann damit eine wundervolle Bindung zu ihr aufbauen und ihr zudem jeden Tag eine große Freude machen.
    Danke.

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