Immer schön auf Abstand - Mein inneres Kind und ich


Mein inneres Kind zu umarmen, das sei die nächste Stufe, erklärt mir meine Therapeutin. Ich habe das Gefühl, das könnte ein längerer Weg werden und bin ratlos, wie ich ihn finden kann und unsicher, ob ich das möchte: Die Idee, meinem verletzten, traurigen und wütenden inneren Kind zu begegnen macht mir Angst. Am meisten fürchte ich den völligen Kontrollverlust, wenn ich dieses unberechenbare Wesen in mir freilasse. 

Kontrollverlust ist der pure, alles Lebendige erstickende Horror für mich: Als Kind habe ich ihn erlebt durch gewalttätige, sexuell übergriffige und nicht beschützende Erwachsene. Als Patientin im Krankenhaus, wenn ich durch Unfall und schwere Krankheit vollkommen auf fremde Hilfe angewiesen war. Als Alkoholabhängige erlebte ich Kontrollverluste als schlimme und wiederkehrende Folge meiner Sucht, wenn ich nicht mehr wusste, was ich getan, gesagt oder betrunken jemandem geschrieben hatte. Wenn ich mich so benahm, wie Betrunkene es tun: aggressiv oder gleichgültig, hemmungslos, total ichzentriert und alles tat, was ich später zutiefst bereute.

Ausgeliefertsein, Hilflosigkeit, Angst und tiefe Wut, diese Gefühle gehen mit Kontrollverlust einher, dazu kommen Scham und Schuld in gigantischem Ausmaß. 

In meiner Erfahrung gibt es nur eine einzige positive Form von Kontrollverlusten: In den schönsten Momenten einer innigen und vollkommen gelösten Sexualität, in den Momenten völliger Hingabe. Und da gehören sie auch hin.

In der Therapie hat sich gezeigt, dass ich eine große Distanz zu meinem inneren Kind habe und keine Ahnung, wie ich es ansprechen oder gar trösten soll. Was soll ich ihm auch sagen? Ich weiß genau, was in seinem Leben alles auf es zukommen wird und an welchen Stellen die Geschichte schlimm ausgeht. Ich weiß wie viel Kummer, Schmerz, Trauer und Verlust auf es warten und dass die von ihm herbeiphantasierten, liebevollen wahren Eltern nicht existieren und niemals kommen werden. Wie soll ich es trösten, wenn ich weiß, was es alles durchmachen wird? Da kommen kleine und große Katastrophen aller Art: Ess-Störungen, Zeiten materieller Not, Tod geliebter Menschen, Unfälle, schwere Krankheit, Kümmern um die sterbende Mutter und darauf die demente Großmutter, Isolation und Depression, Trennungen und Scheidungen und spät im Leben auch noch eine Alkoholsucht.

An dieser Stelle wird mir klar, ich wünsche meinem inneren Kind ein perfektes Leben: Eine große weiße Leinwand für sein buntes, schönes und fröhlich strahlendes Gemälde. Es soll sich frei entfalten können, sich selbst finden und lieben, einen guten Platz im Leben finden, große Liebe erfahren, die Welt ein kleines bisschen besser machen und mit den Tiefen ohne große Schäden umgehen - so ungefähr. 

Jetzt muss ich selber lachen, wenn ich das schreibe. Ich wünsche meinem inneren Kind etwas, das es nicht gibt. Und mir fehlt der Mut, ihm das zu sagen: Mein Leben  wünsche ich ihm auf keinen Fall!

Ist das so? Ist mein Leben nicht zumutbar für mein inneres Kind? Schäme ich mich, dass ich ihm nichts besseres bieten konnte?

Sofort sprudelt der Widerspruch in mir hoch: In meiner ausgiebigen Schwarz-und-schwärzer-Darstellung habe ich das Weiß, das Licht und alle Farben weggelassen. Und ein bisschen Logik auch: Kein Mensch weiß, wie sein Leben verlaufen wird und das ist auch genau richtig so, sonst wären wir nicht handlungsfähig. Und beim Trösten eines Kindes ist mir noch nie in den Sinn gekommen, dass es gleich um seine ganze Zukunft gehen soll: Es geht darum, in diesem Moment für es da zu sein, ganz nah bei ihm und liebevoll zu bepusten, was gerade wehtut: die Seele oder das aufgeschlagene Knie.

Ich sortiere: Da ist die Angst vor Kontrollverlust, wenn ich den Gefühlen meines inneren Kindes freien Lauf lasse, sie könnten mich komplett umhauen. Da ist die Idee, mein Leben sei nicht zumutbar. Und da gibt es den Gedanken, ich hätte es vergeigt und es sei deshalb so schmerzhaft weit weg vom perfekten Leben. 

Schmerz sei kein Kontrollverlust, antwortete meine Therapeutin, als ich ihr sagte, ich könnte eine Woche am Stück weinen und sei dann vielleicht immer noch nicht fertig. Etwas in mir wünscht sich das: Einmal den ganzen Stausee leerweinen und nicht unterbrochen zu werden von einem erwachsenen Satz wie: "Was genau meinen Sie, wäre in Ihrem Leben heute anders, wenn Sie liebevollere und unterstützendere Eltern gehabt hätten?"

Was wäre das Schlimmste, das in einer Woche Weinen passieren könnte? Ein Alkoholrückfall? Ein Depressionsrückfall? Beides nicht zu erwarten, sagt die Therapeutin. Keins meiner Gefühle bedeute einen Kontrollverlust, sagt sie weiter.

Ich vertraue ihr.

Wie sieht das Gemälde meines Lebens wirklich aus? Ist es zumutbar? Ja.

Eine der schlimmsten Katastrophen war das Sterben meiner Mutter: Während es passierte, war ich wie in einem Tunnel, voll funktionsfähig und in der Lage, ihre letzten Wünsche durchzusetzen. In den Wochen ihres Komas konnte ich ihr alles sagen, ihr verzeihen und sie wieder lieben, mir verzeihen und Frieden mit ihr machen. Danach kam die Trauer, es kam Dankbarkeit und es gab viele Einsichten, die zu konkreten Verbesserungen in meinem Leben führten. Zum Beispiel haben wir in unserer Familie alle eine General- und Vorsorgevollmacht. Und es war ein Geschenk, bei ihr zu sein, als sie friedlich sterben konnte: Es ist nichts Grausiges, den letzten Atemzug zu tun, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ihr Beispiel hat mir die Angst vor meinem Sterben genommen.

Schwarz und schwärzer hätte ich auch meine Alkoholabhängigkeit malen können. Aber auch hier gibt es Weiß und Licht und sogar Farbe: Ich bin eine Überlebende und damit das so bleibt, passe ich jeden Tag auf mich auf. Meine Höhere Macht, die mein liebender Life-coach ist, hilft mir dabei. Ich mache vieles anders und besser als je zuvor und meiner Familie geht es heute wieder gut mit mir. Ich gehe soweit zu sagen, dass die Genesung von meiner Sucht mir heute ein besseres Leben ermöglicht, als ich es je hatte.

Licht und Farbe bringt auch die große Dankbarkeit, die ich heute empfinde: Meine Erfahrungen haben dazu beigetragen, dass ich einen Beruf gewählt habe, in dem ich Menschen unterstützen kann auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben. Und ich darf sagen, ich liebe meine Arbeit. Ich habe Trennungen und Scheidungen hinter mir und darf heute in einer glücklichen Ehe leben. Das ist nicht nur reines Glück, denn ich habe gelernt und muss einige Fehler nicht mehr machen. Mein Kind ist gesund und erwachsen und eine tiefe gegenseitige Liebe verbindet uns. Auch mein erwachsenes Bonuskind ist gut ins Leben hineingebaut und auch wir beide haben eine liebevolle Beziehung voller Achtung und Vertrauen. Ich habe gute Freundinnen und Freunde, gehöre zu Gemeinschaften und kann den Gemeinschaften etwas zurückgeben.

Die Zeiten von materieller Not sind vergangen, die Narben von Unfällen und Krankheiten sind verheilt, und ich bin heute gesund. Fast allen meinen Zugehörigen geht es heute gut, und ich bin privilegiert, das alles genießen zu dürfen. Jeden Tag bekomme ich eine neue Chance zu lernen, mich weiter zu entwickeln, es besser zu machen und zu akzeptieren, was ist wie es ist.

Meine Verdienste feiere ich mit fröhlichem Stolz und die Geschenke des Lebens nehme ich dankbar und gerne an. 

Ein Beispiel ist dieses verdammt große Glück: Ich darf in einem freien, sicheren und friedlichen Land leben, ich habe Rechte und kann sie durchsetzen, ich genieße den Wohlstand dieses Landes und das alles aus purem Zufall, dass ich gerade hier geboren bin. Mein Lebensalltag ist kein Überlebenskampf so wie für viele Menschen auf der Welt.

Das alles könnte ich meinem inneren Kind erzählen, falls es das wissen wollte. Aber das glaube ich nicht: Als Kind lebt es im Moment, äußert seine Bedürfnisse spontan und will sie ebenso spontan erfüllt bekommen. Es geht nicht strategisch vor. So wie ihm gerade zumute ist, weint es, lacht und spielt, trauert und zürnt, ist ängstlich oder übermütig. Alles wie in Pfützen springen: rein und raus!

 Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

 

 PS: "Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit." 

Wer das gesagt hat, ist nicht eindeutig geklärt, unter anderen wird Erich Kästner vermutet. Das will ich gerne glauben, wenn ich an all die wunderbaren Kinderbücher denke, die er geschrieben hat.

 

 

Kommentare

  1. Liebe Juna,
    Deinen Text zu lesen ist wunderbar - Deine Sprache - Deine Gedanken - der Fluss in dem ganzen Artikel. Ich habe ihn nun schon dreimal gelesen und jedes Mal fallen mir wieder neue Besonderheiten, tolle Formulierungen auf: Du sprichst so liebevoll von Deinen "Zugehörigen", statt der Angehörigen. Und das ist nur ein Beispiel für Deine besonderen Worten, die Du in Deinen Texten verwendest.
    Danke.

    Aber es geht hier nicht um eine Rezension Deines Schreibstiles (der Glück für die Seele ist), sondern um das Thema des inneren Kindes. Während ich Deinen Text gelesen habe, erinnerte ich mich an meine erste Reise zu meinem inneren Kind: Ich traf es unter einem Kirschbaum, in meiner Vorstellungswelt aus dem wunderbaren Kinderbuch der "Brüder Löwenherz", wir saßen beieinander und ich hörte ihm zu und hielt es nah bei mir. Selbst gab ich ihm die Sicherheit, dass ich immer für ihn da sein werde.
    Dank Deines Textes konnte ich mich wieder daran zurückerinnern und diese Momente genießen.

    Und das ist es was ich an Deinen Texten so besonders schätze: Deine Offenheit, nie belehrend oder den Finger hochhaltend, voller Liebe, Zweifel, Ängste, Zuversicht und Hoffnung, Du lässt mich nachdenken und -spüren, Du gibst keinen Weg vor, aber ebnest die Gedankenwege oder führst mich hin auf unentdeckte, verschlungene Erinnerungen und Gedanken.

    Ja, danke, dass Du Deine Texte auch mit mir teilst.

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  2. Liebe Juna, es ist wie immer bewegend, wie du mit den verschiedenen Themen umgehst. Nicht steckenbleibend im Selbstmitleid, hin zu Liebe, Selbstermächtigung und Kraft. Danke, dass du uns alle teilhaben lässt. Herzliche Grüße aus meinem blühenden Gärtchen. B.

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  3. Liebe Juna, dein Text hat mich sehr berührt. Er ist von leichter Feder geschrieben, obwohl die Beschreibung tonnenschwer ist, aber trotzdem leicht zu verdauen. Bedrückende Erfahrungen so auszudrücken ohne den Lesenden zu erdrücken. Danke dir für deine Denkanstöße. Gute 24h D.

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  4. Liebe Juna.
    Vielen Dank für diesen Text, der mich nachdenklich, aber auch sehr dankbar macht.
    Ich fühle mich angeregt einmal, wie aus der Vogelperspektive, auf mein Leben zu schauen. Was für ein überraschendes Resümee. Ich habe ein gutes Leben und kann rückblickend sagen, ich hatte eine glückliche Kindheit. Bis vor drei Jahren wäre mir ein solcher Satz niemals über die Lippen gekommen. Ständiges Jammern auf hohem Niveau und 1000 Gründe, um zum Alkohol zu greifen.
    Besonders danke ich dir für: „Meine Höhere Macht, die mein liebender Life-coach ist“. Welche Freude über so schöne Worte

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