Sommerreise durch Südengland Teil 3 - der Ladies Lunch in Haywards Heath

 

Nein, der Ladies Lunch ist keine Einladung zum Mittagessen in feiner englischer Damenrunde, sondern so heißt ein AA-Meeting für Frauen, das zur besten Mittagspausenzeit in Haywards Heath stattfindet. Da wollte ich hin.

Wir waren inzwischen in unser zweites Cottage auf dieser Reise gezogen und nun in West Sussex, ungefähr auf halbem Weg zwischen London und dem Seebad Brighton. Laut wikipedia gibt es nicht besonders viele Jobs in der Stadt, die meisten der knapp 23 000 Einwohner und Einwohnerinnen arbeiten entweder im Homeoffice oder pendeln in die umliegenden Städte oder zum Flughafen Gatwick. Wirtschaftlich scheint es gut zu gehen, es gibt eine verlässliche Infrastuktur, ein Krankenhaus, eine gute Verkehrsanbindung, viele Einkaufsmöglichkeiten und ein umfassendes Angebot an öffentlichen und eine Reihe an teuren, privaten Schulen. Die Stadt sieht gepflegt aus und scheint eine hohe Lebensqualität zu besitzen. Das erfuhren wir, als wir frühstücken gingen und mit einer Familie am Nachbartisch ins Gespräch kamen. Die junge Mutter erzählte, sie sei ausgebildete Übersetzerin, Französin und habe eine Zeit lang in Deutschland studiert. Nun habe sie geheiratet und sei mit ihrem Mann hierher gezogen. An ihrem Wohnort schätze sie die schöne Natur im Umland, dass man viel unternehmen könne und der Strand nicht weit sei.

Vor dem Hintergrund dieser Stadtgesellschaft rechnete ich damit, dass im Meeting vielleicht doch einige feine Ladies sitzen und weniger eine bunt gemischte Truppe wie in der quirligen Universitätsstadt Bath. Ich war sehr gespannt, als ich um 12.45 Uhr vor dem Haus stand. Es ist ein Gemeindezentrum in einer alten Backsteinvilla, und ich hörte schon das überschwängliche Rufen und herzliche Lachen aus dem Inneren. Hier gab es eine Greeterin, die jede einzelne Ankommende warmherzig begrüßte. Mich fragte sie als erstes, was ich trinken möchte, und ich bat um eine Tasse Tee mit Milch und Zucker. Herrlich, danke! 

Der Meetingsraum hatte große Fenster in den Garten, die Decke war mit Stuck verziert. So einen prächtigen Versammlungsraum hatte ich in AA-Meetings noch nie gesehen. An den Wänden hingen die vertrauten Plakate mit den 12 Schritten und 12 Traditionen. Auf dem Fußboden lagen 4 laminierte Schilder mit Slogans: One day at a time / Easy does it und die anderen beiden habe ich vergessen. Wir saßen in breiten Polstersesseln, jedenfalls die Superpünktlichen von uns. Da immer mehr Frauen eintrudelten, wurden kurzentschlossen noch einfache Plastikstühle aus den Nebenräumen herbeigeholt. Alle Teilnehmerinnen waren gut gekleidet und geschminkt, die Altersspanne schätzte ich von Ende 20 bis Mitte 70, die Hälfte von ihnen eher ältere Damen und je ein Viertel junge Frauen und mittleren Alters.

Wir rückten enger zusammen und waren 25 Personen, als das Meeting begann. Das überraschte selbst die Chairfrau, hatte sie mir doch eben erst angekündigt, es werde wohl ein kleineres Meeting werden, viele seien noch mit ihren Familien im Urlaub. Sie hatte mir ein Blatt in die Hand gedrückt, mit der Bitte es vorzulesen, sie würde mir ein Zeichen geben, wann. Auch hier gab es freundliches Fragen, ob ich zum ersten Mal in einem Meeting sei und fast alle Frauen kamen zu mir und stellten sich vor. Das ging so schnell, dass ich keine Chance hatte, mir mehr als zwei Namen zu merken. Genau wie in Bath herrschte eine große Willkommenskultur, die mir sofort das Gefühl gab, dazuzugehören, obwohl ich noch nie hier war und nicht jedes Wort verstand.

Ich wurde aufgefordert, die Präambel zu lesen, und es erfüllte mich mit großer Freude, etwas beitragen zu dürfen. Das zweite Blatt hatte ich übersehen, aber die Chairfrau merkte mit Humor an, es sei ihre Gewohnheit, anderen Leuten Papier unterzuschmuggeln und da sei noch was, das ich ebenfalls vorlesen solle. Es war der Aufruf, verantwortlich dafür zu sein, die Hand von AA auszustrecken, wenn um Hilfe gerufen wird. Mein Eindruck war, diese Verantwortlichkeit wird hier nicht nur gelesen, sondern sie drückt sich auch in der Art aus, wie ich als fremde Besucherin empfangen und einbezogen wurde.

Es stellte sich heraus, das Format des Meetings war ein "Wie Bill es sieht" und eine Teilnehmerin las einen Text daraus vor. Ich verstand nur wenig, denn sie sprach einen Dialekt, aber so viel bekam ich mit, dass ich das Thema wiedererkannte.

Wiedersehensfreude durchströmte mich, denn zu diesem Buch habe ich eine Beziehung. Mit Bills Schriften hatte ich gefühlt anderthalb Jahre lang morgens mein Twowayprayer begonnen. Das hatte damals meine Gefühle auf eine anstrengende Achterbahnfahrt geschickt: Manche Texte bewegten mich, einige ärgerten mich. Dann erfuhr ich aus einer Biografie unschmeichelhafte Einzelheiten über ihn und wollte ihn gar nicht mehr lesen. Ich brauchte zwei Anrufe bei meiner Sponsorin und ein paar Tage Pause, um aus meiner selbstgerechten Empörung und kindlichen Enttäuschung wieder herauszukommen. Es gab Texte, die mich gleichgültig ließen und schließlich diejenigen, die mein Herz erreichten und mein Denken erweiterten. Mit dem selbst auferlegten "Billprojekt" hatte ich geübt, wirklich jedem einzelnen Text die Chance zu geben, ihn zumindest auf der Verstandesebene nachzuvollziehen, sogar wenn er mir zunächst unverständlich, nichtssagend, ärgerlich oder moralinsauer erschienen war. Keine schlechte Übung, um meine Vorurteile ins Wanken zu bringen und manche ganz loszuwerden. Letztendlich hatte ich für die 332 Texte 466 Tage gebraucht. Bills Weisheit, Kraft und Erfahrung sowie seiner unermüdlichen Schreibarbeit verdanke ich, dass ich im Verlauf dieser Zeit ein wenig schlauer, disziplinierter und toleranter geworden war.

An meinem Tag im Ladies Lunch drehte sich Bills Text um den Vorwurf von Egoismus und die Frage, ob es richtig sei, die eigene Genesung stets an erste Stelle zu setzen. Für diesen Blogeintrag habe ich extra nachgeschaut und sehe in meinen Notizen, den Egoismustext hatte ich am 14.11.2021 gelesen. Bill sieht es nicht als egoistisch, sondern als dringend notwendig an. Ohne Nüchternheit seien wir verloren und für niemanden wertvoll, weder für uns selbst noch für andere.

Reihum teilten nun die meisten Frauen ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung bezogen auf den Text. Sie wurden von der Chairfrau auf die Redezeitbegrenzung hingewiesen, die mit Blick auf die vielen Teilnehmerinnen nötig war, um ihnen allen die Chance zu geben, teilen zu können.  Ich kenne so etwas nur aus den Zoommeetings und schätze es sehr. In Präsenzmeetings habe ich die Sprechdisziplin oft vermisst und fühlte förmlich meine Achselhaare wachsen, wenn jemand endlos redete und redete. Da bin ich von Bills gütiger Demut sehr weit entfernt, die sagt, egal wer spricht, man könne mit der richtigen Einstellung von jeder Person lernen und es könnte ein schelmischer Gott gewesen sein, der sie einem geschickt habe.

Hier im Ladies Lunch ging es außerordentlich diszipliniert zu, und ich war bewegt und inspiriert von allem, was ich hören durfte. Die klare Form und der tiefgründige Inhalt waren ein spirituelles Geschenk für mich. Zusammen mit der Herzlichkeit und liebevollen Atmosphäre empfand ich es wie einen wohlig warmen Sommerregen für Seele und Geist. 

Den weitaus größten Teil meiner Meetingserfahrungen habe ich auf Zoom gemacht und diese Möglichkeit als großes Glück empfunden, zumal ich im Lockdown 2020 nüchtern wurde. AA machte online-Angebote und das waren meine ersten Schritte in die Selbsthilfe, nachdem ich aus der Suchtklinik entlassen war. Ein paar Wochen später durften sich die Selbsthilfegruppen wieder treffen, und ich konnte endlich in mein erstes Präsenzmeeting gehen. Dort erlebte ich Wärme und Akzeptanz, die vor allem meiner verletzten Seele guttaten. Zu sehen, es gibt Menschen, die es geschafft haben, langjährig nüchtern zu sein, machte mir Mut. Als ich ungefähr sechs Monate trocken war, entdeckte ich die AA-Welt auf Zoom und hörte dort zum ersten Mal von Sponsorschaft und Schrittearbeit. Mit der Zeit stellte ich andere Fragen als am Anfang meiner Nüchternheit und bekam Antworten in vielen ganz unterschiedlichen Meetings. Ich fand eine Sponsorin und stieg ein in die Programmarbeit. Das Zuhören, Teilen und Sprechen in den Zoom-Meetings und die intensive Arbeit mit meiner gütigen und klugen Anleiterin halfen mir, meinen Weg durch die 12 Schritte zu gehen. Und das war für mich entscheidend: Bis heute ist das Programm mein Lebensprogramm: dort habe ich meine Art von Spiritualität gefunden aber auch eine praktische Anleitung, die nützlich ist bei Entscheidungen aller Art. Dort finde ich Hilfe, nüchtern zu leben aber auch meine Werte in mein tägliches Leben zu übersetzen. Dort übe ich, geistig zu wachsen. Für mich sind die 12 Schritte ein Lebensdesign geworden. So viel mehr als zu lernen, wie man nicht trinkt. Heute kann ich sagen, alle meine Lebensbereiche sind von meiner Nüchternheit und Genesung durchzogen wie der Waldboden vom Pilzgeflecht. Und mein Weg dahin war von einer Software für Videokonferenzen geebnet worden.

Was auf Zoom fehlt, ist der Körper- und Blickkontakt: Am Schluss standen wir Frauen im Lunchmeeting von Haywards Heath im Kreis, hielten uns an den Händen und sprachen gemeinsam das Gelassenheitsgebet. Eine Kraft ging von diesem Ritual aus. Ich kann sie jetzt noch spüren, wenn ich mir den Moment ins Gedächtnis zurückrufe.

Beim Tassenspülen dankte ich den Freundinnen und sagte ihnen, wie glücklich sie sich schätzen können, dass sie hier so ein großartiges Frauenmeeting haben und auch sonst ein riesiges Angebot an Präsenz- und Hybridmeetings. Sie wunderten sich, als ich ihnen erzählte, dass nach meiner Erfahrung erst die Zoomtechnik Schrittearbeit und Sponsorschaft weit verbreitet und zugänglich gemacht hat. Viele Hilfesuchende in Deutschland hätten es schwer oder unmöglich gefunden beides in einem Präsenzmeeting angeboten zu bekommen, vor allem abseits der großen Städte. In England gibt es AA schon seit 1946 und eng an das amerikanische Original angelehnt. Vielleicht wurde deshalb auf der Insel Schrittearbeit und Sponsorschaft schon früher und weiter verbreitet.

Durch Zoom finde ich solche Angebote auch in meiner Reichweite und ich bin froh und dankbar: viele niederschwellige Eingänge zur Chance auf Nüchternheit und Genesung und auch unterwegs nie weit weg. Nach meinen Bedürfnissen kann ich auswählen und alle Erfahrungen und Themen, die mich als Frau und ehemals trinkende Frau betreffen, im Meeting mit anderen Frauen ansprechen - oder etwas anderes aus dem reichhaltigen Büffet der vielen verschiedenen Formate aussuchen. Und ich finde mein hilfreiches Maß: selbst Pausen von Meetingsbesuchen- und Diensten waren für mich richtig.

Draußen standen wir noch ein bisschen in der Sonne zusammen. Zum Abschied rief ich ihnen zu: "Wenn ich hier leben würde, würdet ihr mich öfter in diesem wunderbaren Meeting sehen!" Sie winkten mir lächelnd zu: "Du bist jederzeit willkommen, danke dass du hier warst!"

Beide Meetings, die ich während meines Urlaubs besuchte, haben mir Herzenswärme und Zugehörigkeit geschenkt. Sie haben meinen Geist erfrischt,  aber mich vor allem daran erinnert, meine Schrittearbeit mit neuem Leben zu füllen. Dem Austausch mit den Menschen in AA und meinen Routinen will ich wieder die freudige Ernsthaftigkeit und Disziplin widmen, die sie brauchen, um nicht einzuschlafen, sondern lebendig und wirksam zu bleiben. Dafür danke ich allen Frauen, die mir in diesen Meetings begegnet sind. Und ich bin dankbar für die Möglichkeit, in weiten Teilen der Welt offene Türen zu finden, Menschen, die sich verantwortlich fühlen und ihre Hände ausstrecken, danke Bill und Bob und allen nach Euch, die das ermöglichen!

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna 
 
PS: Nach 332 Texten von Bill Wilson, brauchte ich damals eine weibliche Gegenstimme, die ich als wertschätzend und aufbauend empfand. 
Ich fand sie in Melody Beatties Buch "Kraft zum Loslassen". 
Für den 15. August, dem Tag, an dem ich im Ladies Lunch war, steht dort: 
 
"Wir brauchen Zeit, um mit Gefühlen ins Reine zu kommen. Wir brauchen den Raum und die Freiheit, diese Gefühle aufzuarbeiten - in der schwierigen, zuweilen etwas chaotischen Art und Weise, mit der Menschen mit ihrer Gefühlswelt umgehen. 
So ist das Leben. Das ist Wachstum. Und so ist es in Ordnung."

Kommentare

  1. Liebe Juna. Wieviel Mut machen mir deine Erfahrungen bei den Meetingsbesuchen in England! Ab sofort werde ich mich noch gewissenhafter im Urlaub nach AA Treffen umschauen. Die App"Meeting Guide" hatte ich mir für Spanien auf mein Handy geladen und auch Meetings in der Nähe gefunden. Wie so oft passte es dann aber doch nicht oder war ich einfach nur zu feige? Jedenfalls werde ich die nächste Change nutzen und vielleicht kann ich dir dann von Begegnungen berichten.
    ich danke dir für den mutmachenden Text!
    Ganz liebe Grüße
    hage-dorni

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  2. Liebe Juna, danke, dass ich an deiner Reise mental teilnehmen durfte. Deine Reiseberichte brachten mich zu den Orten und Meetings. Wie ein Vorhang der aufgeht und man auf die Bühne blickt. Hab gute 24h
    D.

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  3. Danke liebe Juna, das war wieder ein sehr interessanter Text. Im deutschen Meeting gibt es, soweit ich das kenne, keine Plüschsessel, wir sitzen in Gemeindesälen, Hinterzimmern von Seniorenzentren, Krankenhäusern und angemieteten Wohnungen mit wenig Design und viel zusammengesuchtem Mobiliar. Aber darauf kommt es zum Glück nicht an, das spirituelle Gerüst ist gleich und das Programm stützt uns alle. Und wenn ich ins Frauenmeeting komme, fühle ich mich willkommen und zuhause. Ich freu mich mit dir über deine AA- Erfahrungen, die deine schöne Reise und dich bereichert haben. Die Idee, im Urlaubsland Meetings zu besuchen, gefällt mir. Liebe Grüße B.

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