Meine Zusatzmütter - ich bin dankbar, dass sie Teil meiner Reise waren!

Neulich habe ich hier eine Kerze für Annemarie angezündet, aber es gab noch mehr Zusatzmütter in meinem Leben und heute danke ich ihnen: Gerda, Eva und Heide. Sie haben mir geholfen, als ich bedürftig war. Ich brauchte Zuwendung, Geborgenheit und Verständnis, aber auch Geld, Unterschlupf und Essen. Meine Mutter hat mich geliebt und getan, was sie konnte. Doch gab es Zeiten in meinem Leben, da war es gut, dass noch andere Schultern mittrugen.

Gerda war die Mutter eines meiner engsten Freunde als Jugendliche. Sie hatte Zeit für mich und hörte mir zu. Eine gebildete Frau, die begeistert las und mit der ich mich über jedes Thema unterhalten konnte. Sie glaubte an mein Talent und ermunterte mich, es zu pflegen. Ich habe sie verehrt und in einem  schüchternen Brief umständlich darum gebeten, sie duzen zu dürfen. Als wir Jahrzehnte später unsere Freundschaft wieder aufnahmen, zeigte sie ihn mir. Über drei Umzüge hinweg hatte sie ihn aufbewahrt. Später zog sie in unsere Nähe, und in ihren letzten beiden Lebensjahren haben wir uns nachbarschaftlich um sie gekümmert und sonntags bekocht. Sie hat das Essen und die Gemeinschaft mit uns sehr genossen, es unterbrach ihre Einsamkeit und Marmeladenbrötchendiät. Es gibt ein Foto, auf dem sie mit meiner Tochter zu sehen ist, die ihr begeistert Videos am Handy zeigt, und Gerda strahlt dabei. Sie schenkte ihr, die keine Großmutter hat, ein paar Momente liebster Zuwendung und bekam umgekehrt Zugang zur Welt eines Teenagers, der ihr begeistertes Interesse genoss.

Es ist gut, dass wir die Fähigkeit besitzen, andere Erwachsene als die eigenen Eltern ins Vertrauen zu ziehen und Nähe aufzubauen. Außerfamiliäre Zuwendung, Aufmerksamkeit und Fürsorge zu bekommen, kann Schlimmes verhindern.

So lernte ich Eva kennen: In einer Klinik, in der sie ihre Depression und ich meine Selbsttötungsabsichten loswerden sollte. Zumindest ich wurde geheilt entlassen. Ich war mit 19 Jahren eine der jüngsten Patientinnen dort und sie im Alter meiner Großmutter. Eva war eine Dame, immer mit rotem Lippenstift und perfekter Frisur. Ich konnte mir leicht ihre Schönheit und Lebenslust als junge Frau in mondänen Kreisen Berlins in den 50er und 60er Jahren vorstellen. "Meene Kleene", nannte sie mich in ihrem Berliner Dialekt, und es tat mir gut, dass jemand noch das Kind in mir sah. Ich fühlte mich ausgestoßen oder sollte ich sagen "ausgekotzt" von meiner Familie, isoliert und verloren. Meine Mutter besuchte mich heimlich und brachte hilflos Geschenke, die ich zurückwies, weil ich ihr kein Wort glaubte. 

Eva, die selbst keine Kinder hatte, war da und gab mir Stabilität. Wir sprachen viel, gingen spazieren, gingen in Therapiegruppen und lebten ein paar Wochen dieses seltsame Klinikleben in einer Welt außerhalb der wirklichen Welt. Diese gemeinsame Zeit schuf eine Verbindung, die über 30 Jahre anhielt und mit Telefonaten, Briefen und Päckchen gepflegt wurde. Eva immer in Berlin und ich unterwegs auf den vielen verschiedenen Stationen meines Lebensweges. Es gab noch einen letzten Besuch bei ihr, dann riss die Verbindung ab, weil sie nicht mehr telefonieren konnte. Wann und wie sie starb, habe ich nie erfahren.

Menschen wie Gerda, Annemarie und Eva, die belastbare Beziehungen und Verlässlichkeit anbieten, Interesse zeigen und Zuwendung schenken, haben sich in meinem Leben als das erwiesen, was die Psychologie heute "Schutzfaktoren" nennt. Man stellt die Frage, was zur Gesunderhaltung der Menschen beiträgt. Es wird erforscht, was Kindern und Jugendlichen hilft, traumatische Erfahrungen, ungünstige Lebensumstände und stressreiche Lebensereignisse zu bewältigen. Studien zeigen, gute Beziehungserfahrungen erhöhen die Überzeugung, selbstwirksam zu sein und Probleme lösen zu können. Sie helfen dabei, einen realistischen Optimismus zu entwickeln und fördern die Fähigkeit zum Erleben positiver Gefühle.

Mit 31 Jahren hatte ich mein Abi in der Tasche, mühsam nachgeholt per Fernunterricht und externer Prüfung. Mit 32 war ich Studentin, frisch getrennt von meinem Mann und finanziell am Ende. Ich hatte eine Reihe von Nebenjobs, die unzuverlässig und schlecht bezahlt waren, und ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich weder tanken noch Essen kaufen konnte. Zum Glück hatte ich gute Freundinnen, die mir Geld liehen oder einen Korb mit Lebensmitteln vor die Tür stellten. In meiner größten Not wandte ich mich an meinen Patenonkel. Großzügig half er mir aus und bezahlte mir jeden Monat die Miete für meine Studentenbude. So war die größte und wichtigste Ausgabe gedeckt. Ich schrieb ihm Briefe und berichtete ausführlich von den Projekten in meinem Studium, das ich liebte. Er sei begeistert von persönlicher und positiver Post in seinen sonst todlangweiligen Rechnungsbergen und sehe mit Freude, wie gut es mir gehe, sagte er mir am Telefon. Ein paar Wochen nach unserem letzten Gespräch, zog ich eine Karte aus meinem Briefkasten, in der stand, er sei verstorben. Seine Krankheit hatte er mit keinem Wort erwähnt. Auch er gehört zu den Menschen in meinem Leben, die für mich da waren, als ich sie brauchte und die mich annahmen, wie ich war. 

Seine Frau Heide wurde nach seinem Tod die letzte Zusatzmutter in meinem Leben. Als Kind empfand ich sie als beeindruckende und etwas furchteinflößende Gestalt. Sie hatte eine Vorliebe für Leopardenmuster und dicke Goldklunker an jedem Finger. Ihre derbe Ausdrucksweise, die in meiner Familie verpönt war, gab den Erwachsenen immer wieder Anlass zum Tratschen über sie.  Als ich ein Teenager war, nannte sie meinen prügelnden Vater ein Arschloch. Für einen Moment war meine Welt zurück in der Ordnung, weil jemand der Wahrheit ein Wort gab. Damit war sie die absolute Ausnahme, denn alle anderen Erwachsenen in meinem Umfeld schauten weg. Seit diesem legendären Ereignis hatte ich sie nicht mehr gesehen.

Jetzt wartete ich mit Angst darauf, dass die Zahlung ausblieb und mich die Finanznot endgültig aus meinem Studium katapultieren würde. Doch der Dauerauftrag ging weiter, einen Monat und einen zweiten und einen dritten, und schließlich fasste ich mir ein Herz und besuchte Heide. Mein Patenonkel hatte sich geweigert, einen Vertrag mit mir abzuschließen über die Rückzahlung. Erneut versuchte ich, das Darlehen schriftlich zu regeln. Davon wollte sie nichts wissen, genau wie er früher. Sie erklärte, es sei eine Ehre und Freude, mich weiter zu unterstützen und ganz im Sinne ihres verstorbenen Ehemanns. Wir begannen eine herzliche Freundschaft, ich besuchte sie mit meiner eigenen Familie, und wir sprachen oft und lange miteinander am Telefon. Das blieb so bis zu ihrem Tod. Zurückgezahlt habe ich das Geld nie, Heide hatte es mir geschenkt.

Ich danke meinen lieben Zusatzmüttern und gütigen Menschen wie meinem Patenonkel, die meinen Lebensweg ein Stück begleitet haben und in Notzeiten für mich da waren. Ich danke für das Geschenk, dass sie noch viele Jahre in herzlicher Verbindung zu mir standen, als ich sie nicht mehr als Unterstützerinnen brauchte, sondern eine Freundschaft mit ihnen genießen konnte. Ich danke auch für die Gelegenheiten, ihnen etwas zurückzugeben, als sie alt, dement oder krank wurden.

Ist es Zufall, dass ich heute einen Beruf ausübe, in dem ich manchmal auch eine Zusatzmutter bin?

Vielleicht. Aber ich bin mir sicher, ich könnte heute weniger geben, wenn ich damals nicht so viel bekommen hätte von meinen selbst gewählten Zusatzeltern.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

 

PS: "In der Wahl seiner Eltern kann man nicht vorsichtig genug sein."

Paul Watzlawick

Kommentare

  1. Hallo Juna
    ich denke, dass es ein großes Glück ist, Ersatzmütter oder Omas zu haben. Auch ich hatte eine zu der ich immer gehen konnte und die mich beschützt hat. Sie ist bis heute sehr nah. Meine Eltern nannten sie immer meine „ Klagemauer".
    Lieber Gruß C.

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    1. Liebe C., vielen Dank für Deinen Kommentar, ja es ist ein großes Glück. Wie wunderbar ist es, dass Deine liebe Ersatzmutter noch lebt! Und für die Eltern ist "zusätzliches Personal" eine echte Entlastung. Liebe Grüße

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  2. Liebe Juna, zutiefst berührt hat mich deine Erzählung. Da fällt mir spontan ein, wenn Gott nicht selbst erscheint, dann schickt er Dir einen Engel. Fühl Dich gedrückt. D.

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    1. Vielen Dank liebe D., was für ein schöner Gedanke mit den Engeln. Liebe Grüße und sei herzlich umarmt

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  3. Liebe Juna, vielen Dank für wieder einmal einen offenherzigen Blick, den du uns in dein Leben werfen lässt. Vor ca. 20 Jahren habe ich während einer ambulanten Therapie eine Familienaufstellung auf einem Flipchart machen dürfen. Im Laufe dessen wurde ich gefragt, wer denn die „salutogenen" Menschen in meiner Kindheit waren. Zuerst habe ich nicht verstanden, was der Therapeut meinte. Er meinte, wer denn die förderlichen, unterstützenden Menschen für mich als Kind waren. Das war meine Tante Irene, bei der ich auf dem Bauernhof wohnen durfte, wenn meine Mutter im Krankenhaus war. Eine Frau mit Zivilcourage und Mut. Und da war die wunderbare Nachhilfelehrerin, die mich lehrte, dass ich nicht dumm bin. Als ich schulisch so gut geworden war, dass Nachhilfe nicht mehr nötig war, bekam ich bei ihr Gitarrenunterricht. Ich wäre auch wöchentlich zu ihr gegangen, um immer wieder Sackhüpfen oder Kopfstand zu üben. Für mich als Jugendliche war sie ein rettender Engel in der Dunkelheit.
    Dein Text ließ mich heute mal wieder voll Dankbarkeit an diese zwei „salutogenen" Frauen in meinem Leben denken. Ich danke dir dafür!! In Liebe hage-dorni

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    1. Liebe hage-dorni, an sie alle müssten wir am Muttertag auch denken: unsere Unterstützerinnen, Selbstvertrauenaufbauerinnen und rettenden Engel! Danke für Deine Erfahrungen und Gedanken. Liebe Grüße Juna

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  4. As always, thanks so much for sharing! I had one such beautiful friend, a widow that I lived with for 4 years. I was just out of treatment and very involved in OA during the late 1980’s. I was on her phone constantly! 🤣I had to call in food every morning and take calls as well to work my program. She lived her Christian faith with joy and love and i wanted what she had. She never tried to fix me when I struggled with relapse. She has inspired us to open our home to international students in need of room and board. She passed several years ago in her mid 90’s having touched many young women over the years. Thank you for the reminder that I want to be “all used up” when I go!💕Amy S.

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    1. Thank you Amy, I had to consult the dictionary to understand "all used up":-) I like the thought that we give love and inspiration as much as we can. But I like the idea even more, that both of it is unexhaustible if we can rely on our Higher Power. Thank you for introducing this wonderful lady and unforgettable friend of yours to me.

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  5. I have a second mother too. My AA sponsor for over 20 years. She loves me unconditionally and I only hope to become the woman of grace and dignity that she is at 87. Susan V.

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    1. Your sponsor for twenty years, unconditionally love - that touches me very much, dear Susan. How precious is this second mother to you and what an exceptional and impressive woman she must be. Thank you for telling us about her.

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  6. Danke liebe Juna! Dein Text hat mich sehr berührt. Es ist so schön, deinen Prozess der Genesung begleiten zu dürfen. Wie wunderbar, dass sich die Versprechen der AA erfüllen und wir in Dankbarkeit und Zufriedenheit leben dürfen, anstatt in Leid, Not und Widrigkeiten verstrickt zu bleiben.
    Das erste Glas stehenzulassen ist der Anfang. Mit der Zeit und der Arbeit in den Schritten, vor allem im 4. Schritt, konnte ich mich auch von anderem lösen, z.B. vom Groll über erlittenes Unrecht. Ich durfte lernen, meinen Eigenanteil zu erkennen, Verantwortung zu übernehmen und die Opferhaltung aufzugeben. Auch in der Nüchternheit gibt es harte Zeiten, die wir durchstehen und aushalten müssen, da könnte ich schon selbstmitleidig werden. Dankbarkeit erinnert mich an das Gute, das wir schon erleben durften und gibt Hoffnung auf das Gute, das noch kommen wird.
    In diesem Sinne wünsche ich dir alles Gute🥰Liebe Grüße und nochmals vielen Dank Birgit

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    1. Liebe Birgit, es tut einfach so gut, wenn ich erfahre, dass mein Blog berührt und anspricht. Und ich fühle mich sehr beschenkt, so treue und aktive Leserinnen zu haben wie Dich. Ja wir kennen uns bald 4 Jahre und in dieser Zeit ist viel Gutes geschehen auf meinem Genesungsweg und Du hast es begleitet und mitbekommen. Auch das ist ein Geschenk! Vielen lieben Dank und sei herzlich umarmt

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  7. Liebe Juna, das Thema hat mich direkt zu meiner "kleinen Oma" (1.50m) geführt (es gab auch noch die Grosse und Strenge), mit der ich im Duft der von ihr frisch gebügelten Wäsche "Walzer linksrum" tanzte. Zu lachen hatte sie nicht viel, im Haus des saufenden und cholerischen Schwiegersohns, aber ihre Sanftmut, die Liebe zur Tochter und uns Kindern und die Fähigkeit, das Jetzt zu feiern, waren für mich eine Atempause und Zuflucht. Sie war auch ein Beispiel für unerschütterliches Gottvertrauen: "ich werf die Sorgen auf den Herrn" sagte sie immer... als Kind konnte ich es nicht verstehen warum sie sich nicht wehrte, wenn mein Vater sie mal wieder als Blitzableiter für seinen Frust benutzte. Inzwischen hat sich das geändert 🪷.
    Danke, dass du mich nochmal zurück geführt hast 🌻🫶🏻🌻Bettina



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    1. Liebe Bettina, wie gut, dass es auch in Deinem Leben eine Zusatzmutter gab, die manche Not gelindert und unvergessliche Momente der Freude und Leichtigkeit geschenkt hat! Liebe Grüße

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