Leichtigkeit, Freude und Hoffnung - am Tag nach meinem 5. Schritt

Mich einem Scan zu unterziehen, in dem es um meine Gefühle geht, möglichst ehrlich, das war die Aufgabe. Meinen Ärger aufzuspüren und meine Ängste, Enttäuschungen, Scham, Verzweiflung, Verwirrung, mein Selbstmitleid und auch, wo ich Schaden angerichtet habe, jemandem ein Leid zufügte. Ich schreibe auf, was ich finde und was mein Anteil daran ist. Und dann suche ich Lösungen. Das nennt man in Zwölfschritteprogrammen den Vierten Schritt. Wenn ich fertig bin, lese ich alles einer Vertrauensperson vor und gebe ihr Raum, sich dazu zu äußern. Dieser Vorgang ist der Fünfte Schritt.

Diesen Schritt haben meine Sponsorin und ich gestern gemeinsam unternommen, und es hat vier Stunden gedauert, eine anstrengende und bewegende Zeit für uns beide. Arbeit war das, und sie machte uns beide hungrig und müde. Die fünfte Stunde verbrachte ich mit einem Spaziergang an diesem schönen Ort hier, wo es grün ist und riesige, alte Bäume Schatten und Ruhe spenden. Das Gehen brachte mein Denken in einen guten Fluss und half mir, sicherzustellen, dass ich nichts vergessen hatte, das später ein ungesundes Eigenleben entwickeln und meine Genesung stören könnte. Wie ein kleiner spitzer Stein im Schuh, der keine Ruhe gibt, bevor er nicht rausgeholt wird. Bei mir drückte nichts mehr, und ich beendete meine Aufgabe, indem ich mich in der Sonne auf die Stufen zum Hauseingang setzte und eine Dankbarkeitsliste schrieb: Danke meine liebe Howard, meine Höhere Macht für meine Genesung in AA, dass ich EDA gefunden habe, danke für meine Sponsorin und ihre Zeit, ihre Liebe und Gastfreundschaft, ihr aufmerksames Zuhören, ihre Ermunterung und Geduld, ihre liebevolle Klarheit, ihren Humor, das gemeinsam lachen und Schwere auflösen zu können. Ich danke für ihre fragende Weisheit, ihren prüfenden Blick über den Rand ihrer Brillengläser hinweg und ihr breites Lächeln, wenn wir wieder um eine Kurve gut herumgekommen waren. Ich bin dankbar, dass ich diese Reise mache und für die Unterstützung meiner Freundinnen und besonders meiner Familie. Ich bin dankbar für neue Hoffnung, Einsichten und frische Motivation, die ich in diesem 5. Schritt gewonnen habe. Danke für all die Freundschaft und Liebe in meinem Leben.

Keins der Themen aus meiner Inventur war mir neu: Ich habe schon einmal eine Inventur geschrieben, vor gut drei Jahren, als ich die Schritte in AA gearbeitet habe. Zudem habe ich reichlich Therapieerfahrung in meinem Leben gesammelt. Altlasten aus meiner Kindheit sind verletzte Gefühle und unerfüllte Wünsche nach einer intakten Familie. Bis heute hätte ich gerne, dass deren überlebende Mitglieder sich in liebevollen Beziehungen miteinander befinden. Das ist nicht die Wirklichkeit, und ich kann nichts daran ändern. Aus dieser Zeit stammen auch unerfüllte Bedürfnisse nach Anerkennung, Zugehörigkeit, beschützt zu werden und füreinander einzustehen. Die achtjährige Juna hat sich gezeigt und mit ihr meine Aufgabe, sie wahrzunehmen, zu achten und nachzubeeltern wo es mir möglich ist.

Ich bin leicht zu verletzen, bin abhängig vom Urteil anderer über mich oder meine Arbeit oder mein Schreiben, mehr als mir lieb ist und mehr als nötig. Um der Verletzung zuvor zu kommen, fälle ich schnelle, ungerechte Urteile in Millisekunden. Damit kann ich mich größer, besser, klüger und schöner machen, und die andere Person schrumpft auf der Stelle.

Ich bin mir oft sicher, dass ich genau weiß, was andere brauchen, tun oder lassen sollten und habe viele Erwartungen, glasklar und völlig überhöht. Werden meine Vorstellungen nicht werktreu von meinen Mitmenschen umgesetzt, kann ich schnell verletzt und enttäuscht sein und mich mit Arroganz panieren. Am allerliebsten wäre mir, sie würden meine Wünsche ahnen und begeistert erfüllen, ohne dass ich nur einen Piep mache, willkommen meine liebe Juna, stolze Besucherin von Klasse 2.

Ich grüble gerne in die Zukunft und hänge Sorgen und Ängsten nach, auch solchen, denen gegenüber ich keinerlei Handlungsmöglichkeiten habe, weil sie nicht mich betreffen oder aus anderen Gründen außerhalb meiner Reichweite sind. Ich erlaube Sorgen und Ängsten, mir den Schlaf zu rauben, obwohl ich am nächsten Morgen genausowenig bereit bin, etwas dagegen zu unternehmen wie am Tag zuvor, zwei Tage zuvor, zwei Wochen, Monate, Jahre. Schlechten Schlaf bescheren mir auch Grübeleien über aufgeschobene Arbeiten, Aufgaben oder Bedürfnisse und Wünsche. Es stehen einige sehr lange Bänke in meinem Haus herum und meiner Genesung im Weg.

Ich weiß genau, was fehlt zu meinem Gleichgewicht, zu einer Balance von Körper, Seele und Geist, von Beziehungen und emotionalen Bedürfnissen und dem, was ich für ein erfülltes Leben ersehne.

Dennoch war ich bisher nicht fähig, das Gesunde, Richtige, Vernünftige zu tun, um dieses Gleichgewicht herzustellen und es immer und immer wieder von neuem zu gewinnen, wenn es von den Aufs und Abs in meinem Leben belastet wird und schließlich kippt. Bislang brauche ich meine Essstörung, um mich zu beruhigen, abzulenken oder zu betäuben, mich innerlich aus der realen Situation zu entfernen, wie ich es als Kind gelernt habe

Das Inventurgespräch mit meiner Sponsorin hat mir gezeigt, dass ich schon an vielen Stellen gelernt habe, zu akzeptieren. Ich habe gelernt, dass mein Leben nur zeitlich linear verläuft. Was mein Denken und Fühlen, mein Handeln und Unterlassen betrifft, weiß ich genau, ich komme in Schleifen immer wieder zu denselben Themen, Fragen. Schwierigkeiten und Schmerzen zurück. Das wieder einmal so klar zu erfassen und zu fühlen, das ist ganz in Ordnung so, erfüllte mich mit großer Ruhe. So ist das Leben selbst, und das meiste davon, kann ich nicht steuern, beeinflussen und schon gar nicht rückgängig machen. Das klingt banal. Aber ich werfe mir heute nicht mehr vor, dass ich Entwicklungen nicht "abschließend erledigt" habe. Immer besser gelingt es mir, mein Leben als einen Organismus mit Eigenleben, Eigenart und Eigenzeit zu verstehen. Also bewege ich mich weiter, begrüße die altbekannten Schleifen und gehe weiter.

In meiner Inventur sehe ich, wie viel Ärger, Angst, Enttäuschung, Scham, Schuld, Selbstmitleid und Verzweiflung daraus entstanden sind, dass ich Kontrolle haben will, wo sie gar nicht möglich ist. Ich vergesse, dass ich der einzige Mensch bin, den ich ändern kann und es würde sehr helfen, wenn ich lernte, damit aufzuhören, mir zu wünschen, die anderen ändern zu können. 

Radikale Akzeptanz steht zwischen den Zeilen meiner Bestandaufnahme. Auch das ist nichts Neues, aber ich muss immer wieder daran erinnert werden, damit ich nicht müde werde, sie zu üben und meine Höhere Macht darum zu bitten.

Mich immer öfter wegzudrehen vom Kreisen um mich selbst und mich dem zuzuwenden, das helfen wird, auch darum geht es, wenn ich mir klarmache, was mich hindert. Was wird das sein? Ich weiß es noch nicht genau, aber ich mache die Erfahrung, ich muss diesen Weg nicht alleine gehen, da ist meine Höhere Macht, die eine unerschöpfliche Quelle von Kraft, Liebe und Geduld ist. Da sind meine Zwölfschrittegemeinschaften und die Menschen darin. Da ist das Programm, das ich liebe und nach dem ich versuche, mein Leben auszurichten. Da sind Menschen, die mich in Freundschaft und Liebe hüllen, bedingungslos unterstützen.

Ich bin heute mit Hoffnung erfüllt wie eine Kirche mit Chorgesang, ein Suppentopf mit dampfendem Chili, mein Bad, wenn ich meinem Lieblingsduft versprüht habe.

Ich danke Dir fürs Lesen und freue mich, wenn Du wiederkommst.

Alles Liebe und Gute

Juna

 

PS: "Das Leben ist wie ein Fahrrad. Man muss sich vorwärts bewegen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren."

Albert Einstein

 


 


 

Kommentare

  1. Liebe Juna, wie so oft gedacht und nie hier geschrieben: DANKE ! Danke, dass Du mich auf Deinem Weg mitnimmst, voll Ehrlichkeit, Herzenswärme und Humor. Immer wieder bringst Du mich zum Lächeln und Lachen mit Deinen Formulierungen (u.a. mich mit Arroganz panieren !!! ), die Leichtigkeit in die schweren Themen bringen. Du schenkst mir Kraft und Zuversicht, dass es sich lohnt, immer heiter weiter zu gehen, auf dem Weg der Heilung. Herzlichen Dank liebe Juna

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  2. Vielen lieben Dank, es ist eine große Freude und gleichzeitig ein Ansporn, wenn meine Texte nützlich sind, zum Lachen bringen oder sogar als Kraftspende empfunden werden. Wann immer ich es schaffe, über mich zu lachen oder meinen Alltagskalamitäten eine lustige Seite abzugewinnen, geht es mir gut. Liebe Grüße

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