Von den Profis beten lernen - ein ungeplanter Kirchenbesuch

Fußkrank gestrandet auf einer Wanderung. Zum Glück waren wir nicht in einer feindlichen Einöde, sondern im Örtchen Sankt Helena mit gleichnamiger, geöffneter Kirche. Dort wartete ich, bis mein Mann den Weg zurück ging und mich mit dem Auto abholen kam.

Ich schaute mich um und entdeckte Anzeichen für ein lebendiges Gemeindeleben: An einer Wand hingen die selbstgestalteten Plakate der diesjährigen Konfirmanden und Konfirmandinnen und an einer anderen eine aktuelle Ausstellung zu einem Partnerschaftsprojekt. Ganz nah am Leben der Tod, das zeigte die Gedenktafel für die Männer der Gemeinde, die ihr Leben im Krieg lassen mussten, manche von ihnen nur wenige Jahre älter als die jungen Gemeindemitglieder, die ihre Konfirmation gefeiert hatten. Die Kirche Sankt Helena hat ihre Ursprünge im 15. Jahrhundert und noch immer findet dort jeden Sonntag ein Gottesdienst statt.

Vor dem Altarraum vorne rechts stand ein kleiner Tisch mit einem aufgeschlagenen Gästebuch, ein Stift daneben, ein Stuhl davor: Eine freundliche Einladung, sich niederzulassen und etwas aufzuschreiben. Dankesworte, eine Fürbitte, einen Gruß, ein Gebet und Gedanken zu Gott und der Welt, all das konnte ich in dem Buch lesen. Das berührte mich, und ich hinterließ einen Dank für diese offene Kirche, die Menschen einlud, sich zu äußern und die geöffnet war, weil jemand dafür einen Dienst tat.

Auf den Bänken lagen Gesangbücher aus, ich nahm mir eines und begann darin zu lesen. Im vorderen Teil des Buches waren die Kirchenlieder, alte und moderne, manche, die ich kannte. Mir fiel auf, dass die Lieder oft von Zitaten begleitet wurden. Aber da war noch ein weiterer Teil im Buch, der mit Singen nichts zu tun hatte: Im letzten Drittel waren Gebete und unerwartete Texte wie Briefe, Meditationen und Gedichte, darunter eins von Rose Ausländer. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. 

"Stufen des Lebens" heißt eine Abteilung, darin geht es um das Heranwachsen. Dort steht der Brief einer Jugendlichen an ihre Eltern, in dem sie bittet, ihren eigenen Weg gehen zu dürfen und sich ein Gespräch darüber wünscht. Auf der nächsten Seite folgt ein Gebet für die Eltern Heranwachsender. Das Thema der Eltern ist das Ziehen lassen des Kindes, das die elterliche Fürsorge als lästig empfindet. Es wird um die Weisheit gebeten, zu erkennen, wann Schweigen und wann Sprechen richtig ist. Die Eltern bitten um Gottes Beistand, damit das Kind seinen Platz im Leben findet, eine Aufgabe, die seinen Gaben entspricht, aufrichtige Freundinnen und Freunde und einen Menschen, mit dem es durchs Leben gehen kann. Das Gebet endet mit der Bitte um Hilfe dabei, dass Eltern und Kind einander verstehen und annehmen. 

Sprachlos saß ich in der Kirchenbank, mitten ins Herz getroffen. Eins unserer Kinder war schon vor Jahren zum Studium ausgezogen das andere hatte im Sommer die Schule beendet. Sie Ziehen und Machen lassen, begreifen, dass Fürsorge, die nicht ausdrücklich erbeten wird, zur Last fällt und damit aufhören. Entscheidungen der Kinder akzeptieren, auch wenn sie in unseren Augen falsch waren, die Hoffnung, in allen Lebenslagen mit ihnen im Gespräch zu bleiben, das waren auch unsere Themen. Diesen Bezug zu meinem Alltagsleben hatte ich in einem Kirchenliederbuch nicht erwartet.

Die Stufen des Lebens im Gesangbuch gehen weiter mit Stationen des Erwachsenenlebens, darunter Partnerschaft, Hochzeit, Eltern werden, Mehrfachbelastungen im mittleren Lebensabschnitt mit heranwachsenden Kindern, älterwerdenden Eltern, während man im Beruf steht und schließlich selbst älter und alt werden. Kluge und liebevolle Texte begleiten jede weitere Stufe bis hin zur letzten Lebensaufgabe, dem Sterben.

Es gibt zeitliche Einteilungen etwa Gebete für die Wochentage, denen Gebetsanliegen zugeordnet sind. Für den Montag sind es diese: das Gelingen der Arbeit, alle, die mit uns und für uns arbeiten, alle die Freude und Erholung suchen, weil sie am Wochenende gearbeitet haben und auch an die zu denken, die keine Arbeit haben. Das ist so umfassend an die verschiedensten Aspekte gedacht und voller Liebe, tief berührt war ich beim Lesen. Am Samstag sind Themen dran wie Sterben, Trauer, Einsamkeit, Menschen, denen ihr Leben sinnlos und leer erscheint, aber auch Trost und Hoffnung werden Platz in den Gebeten eingeräumt. Mich hat das dazu gebracht, an den einsamsten Menschen zu denken, den ich persönlich kenne und für ihn zu bitten, dass er Kraft findet, sich einen Weg aus seiner Isolation heraus zu bahnen.

Auch für die Tageszeiten gibt es Texte: Den Tag kann man mit einem indischen Morgengebet begrüßen, mittags innehalten und um inneren Frieden bitten, wenn einen der Arbeitsstress überrennt oder man kann sich für sein Mittagessen bedanken. Da stand tatsächlich das alte Tischgebet, das meine Großmutter zu den Mittagsmahlzeiten sprach, ein goldener, warmer Moment der Erinnerung an sie. Das Abendgebet dient der Reflexion des Tages, eine Gelegenheit, sich zu bedanken für das Gute, Raum für Enttäuschungen, sich und anderen Fehler zu vergeben. Wer das 12-Schritte-Programm gearbeitet hat und versucht, danach zu leben, kann sich hier vollständig wiederfinden. Mir ging es so. Und selbst an die Schlaflosen wird gedacht, auch für diese Situation gibt es ein Gebet.

Diese Sammlung an Gebeten, Meditationen, Briefen, Zitaten und Gedichten ist ganz dicht dran an den Bedürfnissen der Menschen, angepasst an ihre Lebenslagen und an die Entwicklungsaufgaben der verschiedenen Lebensalter vom Teenie bis zum Greis. Sie folgt den Gezeiten des Lebens und der fassbaren Zeit des Tages und der Woche. 

Die Auswahl der Texte bedenkt unsere verschiedenen Rollen. Sie geben uns das Gefühl, nicht allein zu sein mit unseren Problemen, Sorgen, Ängsten aber auch Freuden, Hoffnungen und Erfolgen und erinnern uns daran, zu feiern. Sie lenken den Blick auf uns selbst und auf die anderen, unsere Angehörigen, unseren Freundeskreis, Menschen, mit denen wir arbeiten und auf diejenigen, die einsam sind, krank, am Alter leiden, keine Arbeit haben oder in Kriegen oder in Armut leben.

Wer diese Texte zusammengestellt hat, ließ Toleranz und Weisheit walten und unterschiedliche Sichtweisen zu Wort kommen: Da findet sich der alte Kirchenvater Augustinus neben dem modernen Jörg Zink, da steht das bekannte Stufengedicht von Hermann Hesse, der eine kritische Auseinandersetzung mit dem Christentum gepflegt hatte und ein Gedicht der bekennenden, jüdischen Dichterin Rose Ausländer. Sie hatte den Terror der Nazis im amerikanischen Exil überlebt und war in den 60er Jahren nach Deutschland zurückgekehrt.

Ich durfte dort sein, weil die Kirche geöffnet war oder anders gesagt, Vertrauen gelebt wird. Ich fand im Gesangbuch unerwartet einen Schatz, diese Lebensliteratur. Ich darf sie nutzen, obwohl ich nicht an einen christlichen Gott glaube, und ich kann es, weil ich mich nicht länger an Religiosität störe. Diese offenere, innere Haltung verdanke ich den 12 Schritten. Respektvoll und mit Freude lerne ich von den "Profis".

Für alle, die es genauer wissen und selber lesen möchten, kommt jetzt der Werbeblock: "Evangelisches Gesangbuch für Bayern und Thüringen". Es gibt verschiedene Ausgaben zum Beispiel mit Harmoniebezeichnungen für die musikalische Begleitung oder auch eine Luxusausgabe in Leder gebunden. Für die Lesebrillenaltrigen wie mich gibt es das Buch auch in komfortablem Großdruck.

Ich danke meiner Höheren Macht, die meinen noch nicht ganz verheilten Fuß für diesen ungeplanten Besuch nutzte, um ein paar meiner langgehegten Vorurteile zu zerlegen und mich auf die beste Art zu erschüttern. 

Ich danke für diese Stunde in Gottes Haus und die Entdeckung des "Handbuchs für jede Lebenslage".

Meinem Mann danke ich für seine Wanderlust und Dir fürs Lesen und ich freue mich, wenn Du wiederkommst!

Alles Liebe und Gute

Juna

 PS: Falls Du mal in der Nähe bist: St. Helena, Am Naifertal 9, einem Ortsteil der Gemeinde Simmelsdorf in Mittelfranken, PLZ 91245

PPS: Ein Knüller zum Schluss: Als ich wieder zuhause war, wollte ich mir das Gesangbuch sofort kaufen. Ein kleiner Gedanke blitzte auf, und ich schaute in meinem Bücherregal nach. Da stand es - seit fast 11 Jahren. Nach dem Tod meiner (anderen) Großmutter hatte ich es behalten aber nie hineingeschaut. Völlig umgehauen hat mich die Tatsache, dass sie die bayrische Ausgabe besaß, obwohl sie Zeit ihres Lebens in der Württembergischen Landeskirche war. 

 Die württembergische Ausgabe habe ich mir auch angeschaut: Sie enthält den von mir so geschätzten Teil nur in stark gekürzter Form dafür aber jede Menge Katechismus. 

Danke, meine liebe, kluge Omi!

Kommentare

  1. Als ich diesen Text gelesen habe, liebe Juna, kam mir ein Gedanke sofort in den Kopf: Dinge, Orte, Menschen und Ideen kommen im richtigen Moment zu uns, wenn wir nur darauf vertrauen. Du hast von zwei Begegnungen dieser Art in diesem Artikel geschrieben: Du strandest an einem Ort, den Du sonst (vielleicht) nicht angesteuert hättest, da Dich Deine Füße nur genau bis hierher tragen wollten. Und später findest Du das Juwel von dem Gesangsbuch in Deinem Bücherschrank, was dort schon lange schlummerte, aber jetzt erst Deine Aufmerksamkeit sucht.
    Ich mag diesen Gedanken sehr, dass ich trotz vieler Anstrengungen auch einfach an vielen Stellen loslassen kann und vertrauen darf, dass sich Dinge fügen.

    Aber eigentlich hast Du über das Gebet geschrieben - hast mich mit in diese Kirche genommen - hast mich mit Deinen Worten sehen lassen, was Du gesehen hast - hast das Gebetbuch in seiner Tiefe geschildert. So schön das zu lesen. Es hat mich sehr bewegt, an diesen Ort entführt und die Kraft der Gebete und Texte spüren lassen.

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